Über Reeducation und Spieleshows: ein Denkversuch

DOK Leipzig: Lutz Dammbeck widmet sich in seinem Essayfilm „Overgames“ der Umerziehung der Nachkriegsdeutschen und der politischen Beeinflussung unserer Lebenswirklichkeit

Im Nachkriegsdeutschland kommen die ersten Spielshows auf — Teil des Umerziehungsprogramms der Alliierten? (Foto: DOK Leipzig)

Fast drei Stunden geballte Fakten, Theorien, Gedankengänge. Von den Finanzkrisen in den 1920er-Jahren in den USA und deren psychischen Auswirkungen für die Menschen über anthropologische Feldforschung in Bali, psychologische Kriegsführung bis zu Reeducation-Programmen der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Von der Französischen Revolution und ihren neuen Gesellschaftsbildern ohne König und Kirche bis hin zu Spieleshows vom Schlage „Beat the Clock“, die in Deutschland erfolgreich adaptiert wurden. Was sich wie ein roter Faden durch den Essayfilm Overgames von Lutz Dammbeck zieht, ist das immer wieder vorgeführte Video, in dem Schauspieler und Entertainer Joachim Fuchsberger 2004 in der Talkrunde „Anne Will“ sagt, Spieleshows seien in den 50er-Jahren aus der US-amerikanischen Psychiatrie gekommen. Die Spieleentwickler, denen Dammbeck den Ausschnitt zeigt, können oft nicht glauben, woher die Dramaturgien ihres täglich Brots gekommen sein sollen und wozu sie im politischen Kontext gedient haben könnten.

Dammbeck, geboren 1948 in Leipzig, greift dieses Zitat auf und spannt einen weiten Argumentationsbogen. Auf die vielen psychischen Störungen, die nach den Finanzkrisen der 20er-Jahre in den USA einsetzten, suchten Anthropologen in Bali eine Antwort. Denn die Zunahme von Geisteskrankheiten in dieser Zeit der allgemeinen Verunsicherung war enorm. Es stellte sich die Frage, wie diese Menschen wieder in die Gesellschaft integriert werden könnten. In Bali wurden Menschen mit abweichendem Verhalten zum einen innerhalb der Gemeinschaft von Schamanen betreut. Zum anderen durchliefen sie rituelle Handlungen mit Tanz, Maskerade und Musik, um sich heilen zu lassen. Der Neurologe Richard M. Brickner (1896-1959), der auch einen wirtschaftswissenschaftlichen Hintergrund hatte, wollte dieses Prinzip auf das Nachkriegsdeutschland anwenden. Diesem diagnostizierte er kollektiven Wahn und Paranoia angesichts der hypnotischen Massenhuldigung Adolf Hitlers. Anthropologen, Psychologen, Sozialwissenschaftler und andere Forscher entwickelten daraus eine Behandlungsmethode, die sie Reeducation nannten. Diese sollte auf Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs angewandt werden, so legten sie es bereits in den Jahren zuvor fest.

Der historische Ursprung, der schließlich zu den Maßnahmen der Reeducation führte, so stellt es Dammbeck dar, ist das tief in der US-amerikanischen Gesellschaft verankerte Selbstverständnis, die theoretischen Überlegungen der Französischen Revolution in einem realen Staatenbund umgesetzt zu haben. Das Modell der weißen, scheinbar überlegenen idealen Kultur sollte fortan auch auf Westeuropa, ja, die ganze Welt ausgedehnt werden. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden jedoch bereits maßgeblich um eine parareligiöse Huldigung des Marktes ergänzt. Hier schließt sich die zunächst skurril erscheinende These an, Spieleshows würden einen integralen Bestandteil des Umerziehungsprogramms in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg darstellen. Die in diesen Shows geschaffenen Spiele-Situationen und -Rollen, in die die Kandidaten schlüpfen, seien dem psychotherapeutischen Methodenspektrum entlehnt, heißt es im Film. Indem der Patient beziehungsweise Kandidat in eine andere Rolle schlüpfe, lerne er, erfahre sich neu und werde vom kollektiven Nationalsozialismus-Wahn geheilt. Glaubhafte Argumente dagegen findet Dammbeck auf seinen Gedanken-Gängen in Bibliotheken und zu Experten offenbar auch nicht. Im Stanford-Prison-Experiment und im Milgram-Experiment schließlich versuchen Wissenschaftler herauszufinden, ob ähnliche Dynamiken wie in Deutschland auch in den USA wirken würden.

Die Überlegungen Dammbecks verdeutlichen erneut, wie sehr unsere Lebenswirklichkeit von politischen Entscheidungen der Vergangenheit beeinflusst ist: Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Devise eines sich gegenseitig bedingenden Dreiecksolls aus den Faktoren Militär, Wirtschaft und Kultur als Mittel der psychologischen Kriegsführung laut gedacht.

Overgames ist ein monumentaler Essayfilm mit einer konsequent medienkritischen Erzählästhetik. Dessen Entstehungsprozess ist Teil des Films. Analoge Bilder werden da in die Hand genommen und übereinandergelegt. Ein Videoschnipsel ist auf dem Kamera-Monitor zu sehen. Filmautor Lutz Dammbeck lässt sich selbst filmen, wie er vor seinem Schreibtisch sitzt, nachdenkt, seinen Laptop mit den vielen Videoclip-Ordnern vor sich. Er zeigt, dass sein Film aus vielen Puzzleteilen besteht und gesteht dem Zuschauer die Erkenntnis zu, dass Overgames konstruiert ist, eine Theorie, ein Erklärversuch.

Overgames

Deutschland 2015, 160 Minuten

Regie: Lutz Dammbeck

DOK Leipzig 2015

Internationales Programm

Ausgezeichnet beim Festival mit dem Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts 2015

Filminfos und Trailer auf www.dok-leipzig.de

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