Das Beste zum Feste

Neu erschienen und wieder aufgelegt: Fabian Stiepert hat sich durch zahlreiche Bücher gelesen. Hier seine Geschenketipps


Ulrich Greiner – Das Leben und die Dinge

Raddatz, Karasek, Reich-Ranicki: alle tot. Aber es gibt mit Ulrich Greiner noch einen aus der Reihe der großen Feuilletonisten, der leider zu gerne übersehen wird. Dies könnte daran liegen, dass Ulrich Greiner nie ein so sendungsbewusster Paradiesvogel war wie Raddatz oder Karasek. Vielmehr war sein Dasein als Literaturkritiker und Leiter des Zeit-Feuilletons von einer professionellen Objektivität geprägt. In heutigen Zeiten, in denen man pur subjektive Meinungsbombardements zwecks Debattenbefeuerung wie die von Antonia Baum in der Kultursparte der FAZ lesen muss, undenkbar.

Mit Das Leben und die Dinge legt der ruhige Ulrich Greiner einen schönen Memoirenband vor. Dabei erzählt Greiner nicht einfach chronologisch seine Karriere von den Kinderschuhen bis heute. Er widmet sich essayistisch-biographisch in alphabetischer Reihenfolge Dingen und Begriffen und schont sich bei diesem etwas abstrakten Verfahren auch nicht selbst. So zerbricht die Freundschaft zum amerikanischen Romancier Louis Begley daran, dass Greiner eines seiner Bücher nicht so wohlwollend wie üblich bespricht. Doch Obacht, wer noch weiteren Literaturbetriebsklatsch erwartet, der ist bei Greiner an der falschen Adresse und greife doch lieber zu Fritz J. Raddatz’ hinreißenden Tagebüchern. Greiners Qualitäten liegen in der lakonischen Betrachtung des Lebens. Man hat fast den Eindruck, dass er sich gar nicht recht erklären kann, wie es zu dieser Karriere kam. Für das uneitel vorgetragene Vermögen, sich über Dinge zu wundern, gebührt ihm Respekt.

Erschienen bei Jung und Jung

220 S., 19,90



Max Frisch – Ignoranz als Staatsschutz

Man darf immer skeptisch sein, wenn Texte aus dem Nachlass großer Autoren erscheinen. Nach dem Berliner Journal ist nun von Max Frisch noch ein weiteres Bändchen erschienen, über das sich Freunde des Spätwerks des Schweizer Großautors freuen dürfen. Ignoranz als Staatsschutz? ist ein spaßiger Geniestreich, bei dem man kaum glauben mag, das er von einem alten Mann stammt, der sich in den letzten Zügen seines Lebens befand. Ausgangsmaterial für diese Textcollage ist ein Skandal, der in den Jahren 1989/90 die Schweiz aufgerüttelt hat. Zu dieser Zeit kam nämlich heraus, dass der schweizerische Staatsschutz im kalten Krieg rund eine Million Schweizer systematisch observiert hat. Zur Person Max Frisch wurden dazu rund ein Dutzend Karteikarten angefertigt, auf denen alle verdächtigen Aktivitäten festgehalten wurden. Frisch hat sich diese Karteikarten zu eigen gemacht, abkopiert und in seinem Typoskript die dort zu findenden Behauptungen kommentiert, verneint, korrigiert oder einfach nur bejaht. Ignoranz als Staatsschutz? wird aus zwei Gründen zu einem einmaligen Leseerlebnis: Zuerst ist es eins der letzten Zeugnisse aus dem Zeitalter der analogen Überwachung und zudem wohl das einzige Stück Weltliteratur, in dem sich der Autor darüber beklagt, dass er miserabel überwacht wurde. Über letzteren Punkt kann man als Leser an vielen Stellen herzhaft lachen.

Erschienen bei Suhrkamp

120S., 20 €



Ursula März – Für eine Nacht oder fürs ganze Leben

Das Liebesleben der Alleinstehenden ist so stark im Wandel wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das Internet, Online-Singlebörsen und Dating-Apps wie Tinder machen es heutzutage denkbar einfach, ein Date an Land zu ziehen. Früher musste man in der Dorfdisco oder am Bartresen noch allen Mut zusammennehmen, um das Objekt der Begierde anzusprechen. Weil der Liebesmarkt so im Wandel ist, hat sich Ursula März dieses Themas angenommen und begibt sich in ihrem erzählerischen Sachbuch Für eine Nacht oder fürs ganze Leben auf die Suche nach ungewöhnlichen Liebesgeschichten. Da gibt es zum Beispiel den wohlsituierten Manfred Hügel, der keine Frau mit einem Gewicht über 60 Kilogramm haben mag, sich dann aber dank einer Seitensprungagentur in eine Frau verliebt, die tatsächlich mehr wiegt. Oder die rüstige Rentnerin Gerlinde, die für ihren Lebensabend einen netten Senior gesucht hat, dann aber dank des Internets auf jemanden trifft, der ein paar Jahrzehnte jünger ist als sie. Ursula März zeigt sich in ihren aufregend-unaufregenden Geschichten als absolute Könnerin in Sachen Erzählen. Außerdem zeigt sie uns, dass der ewige Stress mit der Liebe bei den meisten niemals aufhört. Ganz egal, ob man nun 17 oder 97 Jahre alt ist. Für diese trostreiche Lektüre hätte Ursula März weitaus mehr Beachtung, ja eigentlich einen Platz in den Bestsellerlisten verdient. Tun sie deshalb ihren von der Partnersuche geplagten Freunden und Verwandten etwas gutes und legen sie ihnen dieses Buch unter den Baum.

Erschienen bei Hanser

230 S., 19,90 €



Jonathan Franzen – Unschuld

Fünf Jahre nach seinem wunderbaren Familienroman Freiheit ist Jonathan Franzen wieder mit einem dicken Roman in aller Munde. Unschuld heißt der Ziegelstein und kann mit allerhand Themen aufwarten. Pip und Andreas Wolf heißen die Hauptfiguren dieses Buches. Erstere ist dank eines Studienkredits hochverschuldete Callcenter-Mitarbeiterin, die aufgrund ihrer höchst anstrengend-emotionalen Mutter und neurotischer Mitbewohner in ihrer WG nicht recht zur Ruhe kommt. Über einen brisanten Zufall kommt sie an einen Praktikumsplatz bei Andreas Wolfs „Sunlight Project“. Wolf hat es vom gescholtenen DDR-Bürger zum Whistleblower geschafft. Ein Mann vom Kaliber eines Edward Snowden oder Julian Assange. Weitere Details der Handlung zu nennen, würde nicht nur den hiesigen Rahmen sprengen, sondern auch die Lektüre etwas verleiden. Denn Unschuld beeindruckt am meisten in seiner formalen Konstruktion und – wie immer bei Franzen – mit seinen Figuren (Pips dropsigem Mitbewohner Ramon könnte man auch locker einen ganzen Roman spendieren!). Bei aller Euphorie und Bewunderung, wenn es um den größten, lebenden amerikanischen Romancier geht, hat dieser Roman aber auch seine offensichtlichen Mängel. Einige Dialoge sind viel zu ausufernd und auch die gesamte Auflösung des Plots ist für einen Literaten von Weltrang arg seifenopernartig. Vom Vergleich des Internets mit der DDR mag man da gar nicht erst anfangen. Trotzdem ist es herrlich, wie unterschiedlicher Meinung man zu diesem Buch sein kann. Allein, um mit anderen darüber zu sprechen, sollte man es lesen.

Erschienen bei Rowohlt

Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld

830 S., 26,95 €



Michael Fehr – Simeliberg

Simeliberg ist sicherlich mit Abstand das merkwürdigste, schwierigste Buch auf dieser Liste. Sein Autor, Michael Fehr, leidet an einer starken Sehbehinderung und diktiert die meisten seiner Texte mündlich. Wenn man sich diese Produktionsbedingungen beim Lesen verdeutlicht, kann man sich in diesen schmalen Band aber schnell hineinfinden. Simeliberg wird dadurch zu einer Art Prosagedicht mit aberwitziger Handlung, die die Züge eines Krimis trägt, aber auch philosophische Exkurse zu bieten hat. So gilt es, einen Mord aufzuklären, eine rüpelhafte Studentenverbindung im Zaum zu halten und die Bedingungen für eine Reise zum Mars abzustecken. Ein Riesenjux, dieses Buch. Am besten laut vor sich hinlesen und das auch gern mehrfach. So lässt sich als Leser die einmalige Atmosphäre und die sprachliche Feinheit dieses Kleinods ideal herausarbeiten.

Erschienen bei Der gesunde Menschenversand

144 S., 22 €



Kazuo Ishiguro – Der begrabene Riese

Kazuo Ishiguro hat mit Alles was wir geben mussten seinen Lesern vor zehn Jahren reihenweise das Herz gebrochen. Sein neuer, nun vorliegender Roman ist erneut ein einmaliges Leseerlebnis, denn über die Schilderung der Handlung hinaus vermag man kaum zu sagen, was Der begrabene Riese eigentlich für ein Buch sein soll.

So befinden wir uns im fünften Jahrhundert in England. Axl und Beatrice, ein in die Jahre gekommenes, sich aber immer noch liebendes Ehepaar fühlen sich aufgrund kleinerer und größerer Repressalien in ihrem Dorf nicht mehr wohl. Darum ziehen sie los und wollen sich in dem Dorf, in dem ihr Sohn mittlerweile lebt, niederlassen. Doch die Wanderung erweist sich als schwieriger als anfangs gedacht, denn Ritter, Flüsse und Drachen kreuzen ihren Weg.

Das Atemberaubende dieses Buches findet man nicht zwingend in der Handlung, denn die ist trotz Drachen und Rittern eher ruhig. Es ist die Sprache, die selbst erfahrene Leser, die meinen schon alles zu kennen, komplett aus dem Sessel werfen sollte. Daran merkt man auch, dass Ishiguro an diesem Buch in den letzten zehn Jahren intensiv gearbeitet hat. Es wirkt fast so, als wäre diese Sprache nur für dieses Buch entworfen worden und würde nirgendwo anders funktionieren oder gar existieren.

Erschienen bei Blessing

Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Schaden

416 Seiten, 22,99 €



Craig Thompson – Weltraumkrümel

Craig Thompson ist spätestens seit seinem autobiographischen opus magnum Blankets einer der ganz großen Namen in der internationalen Comic-Szene. Nun ist mit Weltraumkrümel Thompsons erster Comic auf den Markt gekommen, der sowohl erwachsene wie auch jüngere Leser (ich würde eine Altersempfehlung ab zehn Jahren aufwärts aussprechen) erreichen soll. Selbst wenn man eigentlich keine Science-Fiction mag, muss man sagen: Weltraumkrümel ist der pure Wahnsinn! Craig Thompson lässt seine Heldin Violet auf 320 teilweise quietschbunten, aber immer detailverliebten Seiten jede Menge Abenteuer erleben. Dabei will das kleine Mädchen nur ihren geliebten Papa retten, der wegen fieser Machenschaften in größter Gefahr schwebt und am Ende aus dem Bauch eines fiesen Weltraum-Wals gerettet werden muss. Wer jetzt denkt, dass das alles Kinderkram ist, der wird spätestens dann Lügen gestraft, wenn er die Bezüge zur Bibel und Freuds Traumdeutung in diesem genialen Comic entdeckt. Somit ist Weltraumkrümel der ideale Einstieg für all diejenigen, die immer noch nicht glauben mögen, dass ein guter Comic gleichzeitig auch große Literatur sein kann.

Erschienen bei Reprodukt

Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Wieland

320 S., 29 €; außerdem in einer edlen Vorzugsausgabe zu 49 € erhältlich



Karl Ove Knausgård – Träumen

Über Karl Ove Knausgård ist in diesem Jahr alles gesagt worden, was das Meinungsspektrum hergibt. „Selfie-Literatur!“ (Denis Scheck) sagen die einen, „Mitunter das großartigste, was momentan geschrieben wird!“ (Juli Zeh) sagen die anderen. Die Wahrheit liegt nicht irgendwo dazwischen, sondern ganz bei einem selbst. Zugegeben, Knausgårds Essays sind oft ellenlanges Geschwurbel ohne echte Meinung oder Haltung und auch seine Rede bei der Verleihung des Welt-Literaturpreises war keine Glanzstunde seines Schaffens. Trotzdem ist sein autobiographisches Mammut-Werk Min Kamp eine lesenswerte Vermessung des Autoren-Egos. Überzeugend darin ist nicht nur die Schonungslosigkeit, die Knausgård gegen sich selbst an den Tag legt, sondern auch die literarische Beweisführung, dass unser aller Leben durch die Bank weg so ziemlich von den gleichen Banalitäten geprägt ist. Der nun erschienene fünfte von sechs Bänden bietet mit der ausführlichen Beschreibung von Knausgårds später Jugend als Student an einer Schreibschule in Bergen einen idealen Einstieg für zu bekehrende Noch-Nicht-Knausgårdianer.

Erschienen bei Luchterhand

Aus dem Norwegischen übersetzt von Paul Berf

800 S., 24,99 €



30 Jahre Lindenstraße – Die Chronik

Sonntags 18:50 Uhr ist für viele Fans der langlebigsten deutschen Serie eine heilige Zeit, denn dann läuft die Lindenstraße. Was vor dreißig Jahren als teures Fernseh-Experiment für den WDR begann, läuft noch heute und hat sich zu einer Institution im deutschen Fernsehen gemausert, der höchstens die Tagesschau oder der Tatort gleich kommt. Um drei Dekaden Fernsehgeschichte gebührend zu feiern, hat sich Lindenstraßen-Mastermind Hans W. Geißendörfer (der die kreative Gesamtleitung der Serie dieses Jahr an seine Tochter Hana übergeben hat) mit dem Kettler-Verlag zusammengetan und einen absoluten Prachtband randvoll mit Fotografien zusammengestellt. Dabei wurde der Begriff der Chronik vollauf ernst genommen, denn vom Kulissenbau bis zu den allerjüngsten Figuren der Serie ist hier alles vertreten. Jedes Mitglied des aktuellen Lindenstraßen-Ensembles wurde zudem in einem Einzel-Porträt verewigt. Obacht sei jedoch jenen gesagt, die von diesem Brocken eine detaillierte, textliche Nacherzählung der letzten dreißig Jahre gesagt. Dieses wunderschön gestaltete Buch (Bücher dieser Qualität gibt es sonst nur aus dem Hause Steidl) versucht das Faszinosum Lindenstraße in über 300 Fotos auf den Punkt zu bringen. Alle Fans der Beimers, Zenkers, Sperlings und Buchstabs, die mit der Serie bestens vertraut sind, werden selig in diesem Monolith von Buch blättern. Also bloß nicht vom Preis abschrecken lassen, wenn es darum geht, einen echten Fan glücklich zu machen!

Erschienen bei Kettler

656 S., 85 €


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