Mit dem Zug der Erinnerung um die ganze Welt

Patti Smith hat ein Buch über ihre Reisen geschrieben. Zugleich geht es um Leben, Tod und Kunst

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Für viele ist Patti Smith seit Jahrzehnten eine musikalische Hausgöttin. Wer Alben wie Horses oder Easter nicht kennt, der hat die Geschichte der Rockmusik schon irgendwo verpennt. Patti Smith auf ihr Schaffen als Musikerin zu reduzieren greift jedoch etwas zu kurz. Das sollte spätestens seit Erscheinen ihres letzten Buches Just Kids vor rund sechs Jahren jedem deutlich geworden sein. Die Kritiker überschlugen sich, den Lesern wuchsen die junge Patti und ihr Weggefährte, der weltberühmte Fotograph Robert Mapplethorpe, ans Herz. Als Patti Smith für ihr autobiographisches Buch den National Book Award erhielt, war klar, dass in der Musikerin auch eine lupenreine Literatin schlummerte und sich endlich voll entfaltet hat.

Nun liegt Patti Smiths neuestes Buch M Train auf Deutsch vor. Wofür das M im Titel steht, wird nicht genau erklärt, aber naheliegend wäre das Wort Memory, handelt es sich doch um 330 Seiten voll von Anekdoten und Erinnerungen, die ohne zwingende chronologische Anordnung erzählt werden.

Wenn man einen Hauptspielort in diesem Buch benennen müsste, dann wäre es abseits von Pattis New Yorker Apartment und den zahlreichen von ihr bewohnten Hotelzimmern wohl das Café ’Ino. Das Café ist leider mittlerweile geschlossen, die Fotos auf dem Gastronomie-Bewertungsportal Yelp lassen aber darauf schließen, dass es sich um ein belebtes wie schönes Café im mittleren Preissegment gehandelt haben muss. Patti Smith hatte dort als ständiger Gast ihren angestammten Tisch und immer ward ihr dort umgehend ein großer, schwarzer Kaffee sowie ein Schälchen Olivenöl mit Weißbrot zum Dippen serviert.

Von diesem Kaffeetisch aus denkt sich Patti Smith zurück in die Zeiten mit ihrem Ehemann Fred Sonic Smith, der mit 45 Jahren im Jahr 1994 an einem Herzinfarkt verstarb. Kurz nachdem die Beziehung der beiden sich gefestigt hatte, traten sie eine gemeinsame Reise durch Französisch-Guayana an. Da die zum Teil frivolen Fantasien des offen homosexuellen Jean Genet stets mit diesem Teil Frankreichs verbunden waren, sammelt Patti Smith dort ein paar Steine von den Überresten eines Gefängnisses auf, um diese am Ende des Buches auf Genets Grab in Marokko nieder zu legen.

Generell referiert Patti Smith bewundernd und sanft über Künstler und Schriftsteller, die ihr viel bedeuten. Ein Foto zeigt den Stuhl des viel zu früh verstorbenen Roberto Bolaño. Allein die mögliche Tatsache, dass Bolaño auf diesem Stuhl sitzend Teile seines gigantischen, schwer zugänglichen Jahrhundertromans 2666 geschrieben haben könnte, macht diesen Gebrauchsgegenstand für Patti Smith zu einem mystisch aufgeladenen Ding. Dieser Dingfetischismus zieht sich mit etlichen weiteren Polaroids durch den ganzen Text. So sehen wir auch Virginia Woolfs Gehstock oder den ausgestopften Bären, der einen im Eingangsbereich von Tolstois Haus entgegen schaute. Solange es Gegenstände gibt, erscheint der assoziative Horizont Patti Smiths nahezu unendlich.

Was ist M Train bloß für ein zauberhaftes wie leicht zugängliches Buch! In der Nacherzählung ist der erlebnisreichen Biographie der dieses Jahr 70 werdenden Patti Smith kaum gerecht zu werden. Da hilft nur die eigene Lektüre, um den Sog dieses Buches begreifen zu können. Und obwohl dieses Memoiren-Sammlung erzählerisch in viele Richtungen, Zeiten und Orte ausschlägt, wird es niemals unübersichtlich oder gar überladen. Im Gegenteil: M Train ist ein zutiefst poetischer Beweis dafür, dass eine Frau wie Patti Smith überall auf der Welt zu Hause sein kann, solange es dort schwarzen, schmackhaften Kaffee gibt.

Patti Smith: M Train. Erinnerungen

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit

Kiepenheuer und Witsch

Köln 2016

336 S., 19,99 Euro


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