Ukraine-Krise aus Familiensicht

DOK Leipzig: Vitaly Mansky hat mit „Rodnye“ ein spannendes Zeitdokument über die Zerrissenheit seines Landes und seines ganz persönlichen Umfelds geschaffen

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Der Riss durch die Ukraine teilt nicht nur das Land, sondern auch Familien. (Foto: Vitaly Mansky)

Aus dem Off heißt es „Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Film einmal machen muss.“ Es ist die Stimme des Regisseurs Vitaly Mansky. Rodnye, im Englischen Close Relations, wird ein sehr persönlicher Film. So viel ist in diesem Moment schon klar.

Noch im letzten Jahr begeisterte Mansky das DOK-Publikum mit seinem Nordkorea-Streifen Under the Sun. Die Subversion des Films entlud sich größtenteils in ungeschnittenen Szenen, die die Inszenierung des Gefilmten entlarvten. Sie zeigten einen Diktatorenstaat, der sich damit aus der Sicht des Zuschauers einfach lächerlich macht. Doch Nordkorea liegt weit entfernt, und die Geschehnisse im Film wirkten eher bizarr und etwas unnahbar. Bei Rodnye geht es nun ans Eingemachte, die eigene Familie. Seit Herbst 2013, als die Proteste auf dem Maidan in Kiew einsetzten, ist die Ukraine nicht mehr zur Ruhe gekommen. Mit der russischen Annexion der Krim beginnt im März 2014 dann auch der Ukraine-Krieg. Im Mai 2014 beschließt Mansky, die Kamera auf seine Familie zu richten.

Denn der Riss durch das Land teilt die Ukraine nicht nur in Ost und West, sondern geht auch mitten durch Familien. Schwestern reden plötzlich nicht mehr miteinander, weil die eine nach Sevastopol gezogen ist und Putin zujubelt und die andere in Lemberg wohnt und sich eine vereinte unabhängige Ukraine erträumt. Väter und Söhne sind sich uneins zur Lage des Landes, teilen sich aber immerhin noch eine Yacht. Dabei wird schon zu Beginn des Films klar, dass das mit der nationalen Zugehörigkeit nicht so eindeutig ist. Lakonisch stellt der Regisseur im Gespräch mit seiner Mutter fest: In unserer Familie gibt es keinen einzigen Tropfen ukrainisches Blut. Die Rede ist von polnischen Litauern und anderen Ethnien. Ein wunderbares Beispiel für die Konstruiertheit von Nationalstaaten, die eben nicht nur auf Herkunft basieren, sondern auf gemeinsamen Vorstellungen und Werten – und vielen historischen Zufällen.

Wir nehmen Teil an intimen Gesprächen, sind in Wohnzimmern, Küchen und Schlafzimmern dabei, wenn sich die Familie unterhält. Wie Mansky dabei die Kamera einsetzt, ist großartig. Es wirkt meist so, als würden die Leute mit Vitaly, ihrem Verwandten, und nicht mit einer Kamera reden. So erhält man als Zuschauer einen guten Einblick in die Schwere dieses Konflikts. Am Ende wird sogar der geliebte Enkel zum Wehrdienst bei der ukrainischen Armee eingezogen. Und alle wissen, das ist keine bloße Wehrausbildung mehr, der Junge wird in den Krieg ziehen. Diese Szenen sind unglaublich stark und entwickeln einen großen Sog. Leider kann Mansky dies nicht den ganzen Film über aufrecht halten.

Nach zwei Dritteln des Films sind die Positionen innerhalb der Familie nachvollziehbar dargestellt worden, doch dann folgen hier noch ein Gespräch und dort noch ein Einschub, in dem noch einmal alles wiederholt wird. Das ist leicht ermüdend. Die vielen auftretenden Familienmitglieder lassen den Film zuweilen unübersichtlich werden. Wer war das nochmal? Die Tante, die Cousine oder eine Schwägerin? Für die Aussage des Films ist dies freilich egal, doch es strengt beim Zuschauen an.

Im Mai 2015 beendet Manskyseine Filmaufnahmen, der Konflikt in der Ukraine ist da aber noch lange nicht vorbei und ist es bis heute nicht. Vieles im Land stagniert, und auch die westlichen Medien berichten kaum noch über das Thema. Deshalb ist dieser Film so wichtig: Er ist ein Zeitdokument, das uns vor Augen führt, wie tief die Krise in der Ukraine wirklich ist.

Rodnye – Close Relations

Lettland, Deutschland, Estland, Ukraine 2016; 112 Minuten

Regie: Vitaly Mansky

DOK Leipzig 2016, Internationaler Wettbewerb

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