Tödliche Treue

DOK Leipzig: „Furusato“ von Thorsten Trimpop ist eine in episodischen Porträts gezeichnete, verstörende Analyse der japanischen Gesellschaft nach dem Reaktorunglück von Fukushima

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„Furusato“ zeigt Menschen, die ihr Leben riskieren, um ein normales zu führen. (Foto: Trimpop)

Wenn der Geigerzähler nicht knackt, sieht es sicher aus. Oft haben die Menschen in Thorsten Trimpops Film Furusato kein solches Messgerät dabei. Menschen, die innerhalb eines Radius von 30 Kilometer um die Stadt Fukushima leben oder gelebt haben, innerhalb dessen die Regierung die Evakuierung angeordnet hat. Längst nicht alle kommen dem nach. Etliche wollen bleiben im Land ihrer Väter und Mütter. Manche haben dort familiäre Wurzeln, die 1.000 Jahre zurückreichen. Die Landschaft, der Boden scheinen Teil ihrer Identität. Sie wollen und können „nicht einfach weggehen“, sagt ein Mann in die Kamera. Ein anderer tupft, in einen weißen Plastikanzug gehüllt und mit Gasmaske vor dem Gesicht, auf einer asphaltierten Straße penibel Dreckhäufchen zusammen, damit andere nicht kontaminiert werden. Zuvor tupft sich eine ältere Dame Tränen aus den Augen, während sie von verschwundenen Vögeln erzählt. Die Bedrohung ist unsichtbar und allgegenwärtig.

Auf den ersten Blick wirkt alles friedlich in dieser schönen Natur, selbst bei Dauerregen. Die Natur scheint sich nach der Atomreaktor-Katastrophe in Fukushima von 2011 nicht groß geändert zu haben. Eine Familie, die innerhalb dieses „Bannkreis des Todes“ leben will, lässt sich von Warnungen nicht abhalten. Sie züchtet weiter Pferde, wie Generationen vor ihr. Die Tiere sehen gesund und kraftvoll aus. Eines wirft den reiterfahrenen Vater von seinem Rücken. Die erwachsene Tochter wirkt unerschrocken, trägt keine Atemschutzmaske, keinen Geigerzähler bei sich. Doch mit der Zeit häufen sich die Krankheiten, vor allem bei den Tieren. Fohlen lahmen von Geburt an, viele Tiere leiden an einer Nervenkrankheit, werden schwach, sterben. In einer Einstellung gegen Ende trägt die Tochter Pflaster in beiden Ellenbeugen, vermutlich vom Blutabnehmen. Ob sie krank ist oder nicht, wird offen gelassen wie so vieles in diesem Film. Die Bilder erzählen und die Menschen durch das, was sie sagen und nicht sagen. Zeitgenössische, japanische Musik setzt verstörende Akente.

Langsam und unaufgeregt begleitet Furusato Betroffene des Unglücks. Der Film brilliert nicht durch Faktenreichtum, sondern erschüttert im Alltäglichen. Zu Beginn fährt eine Familie durch ihre nun wie eine moderne Filmkulisse wirkende einstige Heimatstadt in der Nähe von Fukushima. Bücher stehen ungelesen in einer Buchhandlung, stellt der Vater fest. Überall sind die Rollläden heruntergelassen, als ob die Bewohner jemals wiederkämen. Später sitzt diese Familie, irgendwo in einem Provisorium angekommen, beim gemeinsamen Essen. Die aufgetischten Pilze seien ein Geschenk einer Bekannten. Keiner spricht die Angst aus, dass diese kontaminiert sein könnten. Die ständig präsente Gefahr vergiftet auch Gedanken und Gefühle. Einige berichten von Leere und Hoffnungslosigkeit, umso eindrücklicher angesichts japanischer Zurückhaltung. Oder von der unerreichbaren Sehnsucht nach dem alten Leben.

Da sind aber auch die Stimmen von Aktivisten, die selbst ihr Leben riskieren, um auf die Missstände aufmerksam zu machen. Ein Sicherheitsingenieur, der einst für die Betreiberfirma Tepco arbeitete, zeigt seine tiefe Verunsicherung. Solche Innensichten werden kontrastiert mit absurd erscheinenden Werbevideos für hochentwickelte Reaktortechnik. Ein kuppelförmiges Dach schwebt darin mit Luftballons und Freudenbändern geschmückt am Kran an seinen vorgesehenen Platz, begleitet von inszenierten, bewundernden Blicken.

Trimpops leiser Film lässt den Zuschauer mit vielen Fragen zurück. Unklarheit durchzieht die Handlung wie ein Motto. Was wird passieren? Wie kann man sich schützen, wenn selbst die Regierung lügt und verbirgt, was gefährlich ist? Und wann ist man bereit, das Risiko einzugehen, tödlich zu erkranken? Verstörendes Porträt und Analyse der japanischen Gesellschaft. Über Menschen, die ihr Leben riskieren, um ein normales zu leben. Als wäre nichts gewesen.

Furusato

Deutschland/USA 2016, 94 Minuten

Regie: Thorsten Trimpop

DOK Leipzig 2016, Deutscher Wettbewerb

* Nachtrag: Trimpop wurde am 4. November für „Furusato“ mit der Goldenen Taube für einen Langfilm im Deutschen Wettbewerb ausgezeichnet.

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