Kleine franko-helvetische Gemüsekunde

DOK Leipzig: Warum der 66-minütige Schweizer Animationsfilm „Ma vie de courgette“ das diesjährige Leipziger Dokfestival eröffnete und sich die Macher nun Hoffnungen auf den Oscar machen

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Im Waisenhaus wird der Protagonist mit Freunden, Konflikten, seiner ersten Liebe und einer möglichen neuen Zukunft konfrontiert. (Fotos: Verleih)

Courgette heißt eigentlich Icare und ist ein neunjähriger Junge, dessen Vater nach Aussage seiner Mutter wohl sehr auf „junge Hühner“ steht. Die leeren Bierdosen, die die alleinerziehende Mutter beim Beschimpfen der allgegenwärtigen Soaps und Telenovelas in der Wohnung hinterlässt, sammelt der kleine Junge auf und baut aus ihnen Burgen. Den abwesenden Vater hat er samt Huhn auf seinem Papier-Drachen verewigt. Der Versuch einer vermeintlich „normalen“ Kindheit also, soweit dies innerhalb des vorgegebenen Rahmens für den kleinen Icare denn letztlich möglich ist. All dies ändert sich in dem Moment, als aus seiner Dachkammer eine einzelne Dose laut scheppernd ihren Weg zurück in die untere Wohnung findet und seine Mutter sich auf den obligatorischen Weg macht, dem Jungen „beizubringen“, keinen Müll in der Wohnung liegen zu lassen.

Das den Film und die Geschichte nun einleitende Unglück nimmt auf der Leiter zur Dachkammer seinen Lauf, und schon kurz darauf sitzt Icare bei dem freundlichen Polizisten Raymond, der ihn über sein bisheriges Leben befragt, und ihm mitteilt, dass er leider nicht mehr nach Hause kann. An dieser Stelle wird zumindest auch teilweise geklärt, was sich hinter dem seltsamen Filmtitel verbirgt: Der kleine Junge erklärt auf Nachfrage, dass sein eigentlicher Name Courgette sei, da seine Mutter ihn immer schon so genannt habe (warum seine Mutter gerade diesen Namen gewählt hat, wird im Film leider nicht mehr erläutert). Dieser Name wird ihn, abgesehen von einigen kleinen Schlenkern, dann auch über den weiteren Film begleiten.

Nach dem Aufenthalt bei der Polizei findet sich „Courgette“ schon bald in einem Waisenhaus wieder. Hier wird er mit Freunden, Konflikten, seiner ersten Liebe und einer möglichen neuen Zukunft konfrontiert. Und auf dem Weg dorthin wird er unter anderem beweisen müssen, warum er eine Zucchini und keine Kartoffel ist, lernen, mit dem Verlust seiner Mutter umzugehen, und beginnen zu verstehen, welch vielfältige Möglichkeiten das Leben auch nach seinem bisherigen Verlauf noch für ihn zu bieten hat.

Es mag einen im ersten Moment stutzig machen, dass die nur 66 Minuten lange klassische Stop-Motion-Animationsarbeit von Claude Barras tatsächlich als Schweizer Beitrag in das kommende Oscar-Rennen um den besten ausländischen Film einsteigt, und zudem auch in hiesigen Gefilden beispielsweise die große Bühne als diesjähriger Eröffnungsfilm beim Dokumentar- und Animationsfestival DOK-Leipzig präsentiert bekam.

Nach der Sichtung von Ma vie de courgette werden diese Schritte jedoch ein wenig nachvollziehbarer. Die eigentlich dramatische Geschichte, basierend auf dem Buch „Autobiographie d´une courgette“ von Gilles Paris, die sich im Film letztlich um ein kleines Ensemble von sieben bis acht Charakteren dreht, wird über die gesamte Länge des Films auf unaufgeregte und einfühlsame, gleichzeitig freudige wie auch schmerzhafte Weise erzählt. Dies geschieht zudem noch auf einem Weg, der sowohl Kinder als auch Erwachsene auf gleicher Augenhöhe anspricht und nie in eine melodramatische oder überzeichnete Form abrutscht. Es ist vielmehr wohl gerade die gelungene Reduktion sowohl hinsichtlich der erzählten Geschichte als auch der Form der genutzten Animationstechnik, die dem Zuschauer letztlich Raum gibt die Geschichte auch mit eigenen Gedanken zu begleiten.

Neben der inhaltlich gelungenen Herangehensweise muss die Animations-Arbeit von Ma vie de courgette noch einmal im Besonderen hervorgehoben werden. Beim gerade beendeten DOK-Festival in Leipzig gab es die seltene Möglichkeit, sich mit Teilen des Animationsteams diesbezüglich ausführlich auch direkt unterhalten zu können, und mehr über die technischen Rahmenbedingungen einer solchen Produktion zu erfahren. In diesem Rahmen waren erfreulicherweise ebenfalls, wie es sich für ein Festival ja eigentlich auch gehört, die Hauptdarsteller Courgette aka Icare und Simon zu Gast, und man konnte sich die Original-Puppen aus dem Film auch aus nächster Nähe noch einmal genauer ansehen.

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Beim Leipziger Dokfestival gab es nicht nur die Figur Simon zum Anfassen (linkes Bild), sondern auch die Möglichkeit, sich mit einigen Machern des Animationsfilms über die Produktionsbedingungen zu unterhalten. (Foto: Dennis Osmanovic)

In der Diskussion um die genutzte Animationstechnik wurde deutlich, dass man sich trotz mittlerweile weitergehender Möglichkeiten bei der Produktion bewusst für die klassische Optik eines Stop-Motion-Animationsfilms entschieden hat, bei der man z.B. anhand der leicht abgehakten Bewegungsläufe deutlich wahrnehmen kann dass es sich um Puppen und nicht Computeranimationen handelt.

Diese Ästhetik schließt neue technische Möglichkeiten hinsichtlich des Herstellungsprozesses der Figuren und dem eigentlichen Filmen erfreulicher Weise nicht aus, sondern konnte im gegebenen Fall auf vernünftige Weise zum eigenen Vorteil genutzt werden. So wurden beispielsweise die Köpfe der Puppen mit einem 3D-Drucker hergestellt (die Körper waren klassische Drahtkonstruktionen), und es wurden zudem neue Möglichkeiten in der Kameratechnik (z.B. die Live-View-Mechanik bei SLR-Kameras) genutzt, was schlussendlich zu einer Verkürzung des Drehprozesses im Vergleich zu früheren Animationsarbeiten führte.

Und vielleicht muss man an dieser Stelle doch noch kurz ein wenig ausholen um zu verstehen, was für ein Aufwand in solchen klassischen Stop-Motion-Produktionen selbst mit gegenwärtigen Werkzeugen immer noch steckt: Für die 66 Minuten Film wurden Dank der erläuterten technischen Möglichkeiten letztlich dann „nur“ zehn Monate konkrete Filmzeit benötigt, was nach Aussage von Teilnehmern des Animationsteams außerordentlich kurz für eine solche Arbeit ist.

Ma vie de courgette ist somit trotz neuer technischer Möglichkeiten als ein klares Bekenntnis zur klassischen Animations-Arbeit zu verstehen, im Gegensatz zu anderen aktuellen Stop-Motion-Arbeiten wie beispielsweise dem momentan ebenfalls im Kino laufenden Film Kubo – Der tapfere Samurai. Wenn bei dieser Produktion letztlich abertausende Gesichtsanimationen vorab am Computer designt werden, um dann per 3D-Druck-Verfahren in massenhafter Weise hergestellt zu werden, und mögliche visuelle Bruchstellen in der Nachbearbeitung digital wegretuschiert werden, so muss man sich fragen, wo bei einer solchen Herangehensweise letztlich noch der Sinn besteht, überhaupt mit echtem Material zu arbeiten.

Im Gegensatz hierzu gibt es in Ma vie de courgette grundsätzlich zwar einen ebenfalls per 3D-Verfahren erstellten Kopf samt Augen, der jedoch von dem Animationsteam durch ein zugehöriges magnetisches „Gesichts-Set“, bestehend aus ca. 80 Teilen mit verschiedenen Mündern, Augenbrauen oder Augenlidern, je nach Szene individuell inszeniert und variiert wurde.

Hinsichtlich der sowohl inhaltlichen Qualität der Umsetzung der autobiografischen Buchvorlage als auch der hohen handwerklichen und künstlerischen Animationsarbeit verwundert es somit letztlich nicht mehr, dass der Film eigentlich der perfekte Eröffnungskandidat für das diesjährige DOK-Festival mit seinem allgemeinen Schwerpunkt auf Dokumentar- und Animationsfilm gewesen ist. Und auch wenn der Griff zu den Oscars vielleicht doch ein wenig hoch erscheint, so kann man im gegebenen Fall zumindest nachvollziehen, warum man bereit ist es trotzdem zu versuchen.

Gewonnen hat dieser erste „Langspiel“-Film von Claude Barras letztlich jedoch auch schon so, und hinsichtlich der aktuell in Leipzig stattfindenden französischen Filmtage in Leipzig muss man insbesondere die französische Originalfassung noch einmal besonders hervorheben, in der der Film hier glücklicherweise nochmals mehrfach gezeigt wird. Bei ihr treffen die Sprecher noch authentischer und unmittelbarer den richtigen Ton, als es in großen Teilen auch bei der deutschen Sprachfassung der Fall ist. Es empfiehlt sich somit nachdrücklich, dieses Angebot wenn möglich wahrzunehmen. Die wunderbare Musik von Sophie Hunger kann man glücklicherweise in jedem Falle genießen.

Ma vie de courgette

Frankreich/Schweiz 2006, 66 Minuten

Regie: Claude Barras

DOK Leipzig 2016


Der Film ist auch im Rahmen der 22. Französischen Filmtage Leipzig zu sehen, und zwar am Samstag, 19. November, um 15 Uhr und am Sonntag, 20. November, um 11, 13 und 15 Uhr in den Passage-Kinos.


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