Mogadischu–München

Fridolin Schley macht in „Die Ungesichter“ die Fluchtgeschichte zweier unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge zugänglich.

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Niemand weiß genau, wie viele Flüchtlinge in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind. Die geschätzten Zahlen scheinen erschreckend hoch. Aber noch erschreckender sind die persönlichen Geschichten, die hinter diesen Zahlen stehen. Und kein Medium ist besser dafür geeignet, diese Geschichten zugänglich zu machen als die Literatur.

Fridolin Schley hat in Die Ungesichter einen Versuch unternommen, ein einziges Flüchtlingsschicksal einzufangen. Der leuchtend grünblaue, mit einer schematischen Grafik versehene Einband des schmalen Bandes ist auf den ersten Blick keine Einladung zum Lesen. Auch die schwarz-weißen Punktgrafiken, mit denen der Band illustriert ist, sind vor allem dazu angetan, das Auge beim Lesen zu irritieren. Literarisch dagegen schöpft Fridolin Schley das Potential der Literatur voll aus, dem Leser ein Menschenschicksal so nahe werden zu lassen, als wäre es sein eigenes.

Die Geschichte, die er erzählt, hat ihren Ursprung in einer „wahren“ Geschichte und ist dennoch nicht identisch mit ihr – und genau darin liegt seine Leistung. Er erzählt die Geschichte der fünfzehnjährigen Amal, die 2009 aus Somalia flieht, nachdem sie aus einem Lager der fundamentalistisch-islamischen Milizen entkommen konnte. Amal hat nicht die Gelegenheit, sich selbst zu fragen, ob sie Somalia verlassen möchte. Ihre Mutter hat in großer Eile ihre Flucht arrangiert. Gemeinsam mit einem gleichaltrigen Jungen wird sie von einem Schlepper bis in die Ukraine gebracht. Doch die beiden Jugendlichen wollen weiter ins Herz Europas. Auf den Etappen ihrer Flucht durch mehrere Länder werden sie aufgegriffen, weitergeschoben und laufen gelassen, und das nach Regeln, die ihnen nicht zugänglich sind. Vielleicht gibt es auch keine Regeln, sondern nur Zufälle. Niemals wissen sie, was der nächste Tag bringen wird, und ob sie ihr Ziel jemals erreichen werden.

Geschickt bündelt Fridolin Schley Amals Erlebnisse in Bilder, verdichtet ihre Ängste in wenigen Sätzen. Im Chaos der Flucht gibt es eine Konstante: die Angst, sie könnte ihre Gesicht verlieren, die Angst, einen falschen Schritt zu tun, der ihr ihre Würde nehmen würde. „Ungesichter“ sind sowohl Amal und ihr Begleiter, „Ungesichter“ sind all diejenigen, denen sie auf ihrer Flucht begegnen – an den Grenzen, in Flüchtlingslagern, auf Polizeistationen und in Amtsstuben. Keine hundert Seiten umfasst diese Fluchtgeschichte, die sich über viele Monate erstreckt und durch fünf Länder verläuft. Schley schwelgt nicht in grausamen Details, noch spart er sie aus. Er traut dem Leser eine große Imaginationskraft zu und gerade dadurch bekommt Amals Geschichte ihre große Eindringlichkeit.

Fridolin Schley: Die Ungesichter

Allitera Verlag

München 2016

100 Seiten, 14,90 Euro


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