Die Modernität Luthers

Willi Winklers Biografie des Reformators hebt sich von den vielen Luther-Büchern der vergangenen Jahre ab

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Martin Luther – Bildausschnitt aus dem Buchcover von „Luther. Ein deutscher Rebell“

Luthers Thesenanschlag an die Schlosskirche zu Wittenberg ist dieses Jahr genau 500 Jahre her. Am 31. Oktober feierten Protestanten Luther zu Ehren den Reformationstag. Zu diesem Anlass sind in den vergangenen beiden Jahren etliche Luther-Biografien entstanden, gibt es unzählige Ausstellungen rund um das Thema Luther und Reformation und finden hunderte Veranstaltungen statt. Ein wahrer Luther-Hype überschwappt die mitteldeutschen Lande und versucht auf die epochalen Ideen aufmerksam zu machen. Dabei sind Enthüllungsjournalisten ebenso auf Fakten- und Geschichtenjagd wie Kulturschaffende und Politiker. Sie wollen Luther und die Reformation ins rechte Licht rücken, ihn von vielen Seiten beleuchten und die Ambivalenzen einer Zeit und eines Mannes aufzeigen, die bedeutsamer für die Neuzeit nicht sein können.

Wer ist der Autor Willi Winkler?

Einer, der diesen Trend schon vor einem Jahr antizipiert hat, ist Willi Winkler. Er ist von Haus aus Journalist, Übersetzer und Autor, arbeitet unter anderem für Die Zeit, den Spiegel und die Süddeutsche Zeitung. Mit seinen Büchern hat er schon verschiedene Preise eingeheimst. Das Spektrum seiner Bücher ist recht bunt. Es reicht thematisch von den Beatles und den Rolling Stones über die Geschichte der RAF bis hin zum Schweizer Nazi Francois Genoud. Dass sich der Katholik Winkler, der sich selbst auch schon mal auf Wallfahrt durch Deutschland begibt, ein Buch über den Reformator schlechthin schreibt, scheint ein Indiz dafür zu sein, dass er keine Themenbegrenzung kennt und über den eigenen religiösen Tellerrand hinausschaut.

Was macht Winklers Luther-Biografie so besonders?

Winklers Luther-Biografie, bereits 2016 im Rowohlt Verlag in Berlin erschienen, ragt nun insofern aus dem Konzert der Reformationsbücher heraus, als dass der Autor auf ganz eigene Weise die Geschichte eines Mannes erzählt, der von Zweifeln und Ängsten geplagt ist und immer wieder die Flucht nach vorn antritt. Dieses rebellische Moment schiebt Winkler in den Vordergrund seiner Biografie, obwohl klar ist, dass Luther alles andere als eine totale Umgestaltung der Kirche intendierte. Bei Winkler wird Luther zum Rebell wider Willen. Indem er das Bibelwort wörtlich nimmt, sein Gewissen als Instanz für Wahrheit erklärt und die römische Kirche für ihr Handeln zur Rechenschaft bittet, erscheint er bei Winkler im Licht eines konservativen Rebellen und eines religiösen Querkopfes, der vor Kaiser und Papst Mut beweist. Luther wird in eine Welt gestellt, die aus heutiger Sicht in ihrer Widersprüchlichkeit höchst erklärungsbedürftig ist. Diese Erklärungen liefert Winkler, indem er seine Hauptfigur aus den Quellen heraus in die geschichtlichen Zusammenhänge einbettet. So erfährt der Leser nicht nur etwas über Luthers Leben und Denken, sondern vor allem – und das macht das Buch so lesenswert und besonders – über die Zeit des ausgehenden Mittelalters und des Übergangs zur Moderne. An der Figur Luther wird dargestellt, wie die Neuakzentuierung der Epoche allmählich vonstattengeht.

Wie erscheint Luther in Winklers Buch?

Insofern reicht es dem Autor nicht, Luther neben andere Größen der Weltgeschichte zu stellen. Vielmehr ist ihm daran gelegen, Luthers emanzipatorische Bestrebungen als ständiges inneres Ringen und gleichzeitiges Ankämpfen gegen äußere Machthaber narrativ plausibel zu machen. Dass Luther die Dimensionen seines Handelns zunächst gar nicht begreift, liegt für Winkler auf der Hand. Der fromme Luther handelt vielmehr als Getriebener seines Gewissens. Dass er später bei der Einsortierung seines Handelns in eine in sich stimmige Biografie mehrfach zu rhetorisch-dialektischen Winkelzügen greift, macht ihn zu einer sehr äußerst facettenreichen Figur, die alle Höhen und Tiefen des Lebens durchmacht. Vaterkonflikt, Angstneurosen, Narzissmus, Psychosomatik und Selbstinszenierungsdrang sind dabei nur einige seiner offensichtlichen Merkmale. Luther ist oft nicht der entschlossene, mutige und wortgewandte Prediger, sondern eben auch der hadernde, neidische und hassende Mensch. Und das alles gepaart mit Temperament und Leidenschaft, deren Selbststilisierung heutigen Popstars in nichts nachsteht. Nur so werden auch die verschiedenen Wandlungen Luthers verstehbar: vom Judenfreund zum Judenhasser, von Volkes Freund zum Bauernbeschimpfer, vom durch einen Blitz Erweckten zum Befreier.

Was fehlt im Buch?

Das Buch von Willi Winkler glänzt vor allem durch seinen Detailreichtum bezüglich der aus den frühneuhochdeutschen und lateinischen Quellen gehobenen Fakten, die in eine leicht lesbare Form gebracht wurden. Winkler nutzt dabei nicht nur Briefe, sondern auch Bilder und Kupferstiche aus der damaligen Zeit. Dem Autor gelingt es, mehrere Erzählperspektiven zu vereinen und so den Leser in die Zeit vor 500 Jahren zu entführen. Gleichzeitig macht er darauf aufmerksam, welchen wichtigen Stellenwert die Buchdruckkunst für die Ausbreitung der Ideen Luthers hatte. Schließlich befand sich die Cranach-Druckerei in seiner unmittelbaren Nähe. Damit unterstreicht er einmal mehr, wie stark mediale Errungenschaften gesellschaftliche Veränderungen tragen und befördern können. Manchem mag das Buch mit seinen mehr als 600 Seiten zu umfangreich sein. Manchen mag die Ausführlichkeit der Zitate stören. Einige mögen kritisieren, dass bestimmte Themen zu stark, andere zu wenig beleuchtet werden. So handelt Winkler beispielsweise die Beziehung zu Katharina von Bora auf lediglich zwei Seiten ab. Ebenso mager sind die Hinweise auf Luthers Familienleben, seine Krankheitsgeschichte, die konkurrenzbeladene Beziehung zu Müntzer und so weiter. Aber Themen wie diese werden ja bereits in anderen Publikationen näher betrachtet.

Wie sieht die Welt Luthers aus?

Das groß angelegte Panorama des frühen 16. Jahrhunderts, das Winkler zeichnet, verortet die umstrittene Gestalt Luther in einem Machtvakuum. Der Kaiser sträubt sich gegen den Machtanspruch des Papstes, der Papst agiert als Bankier, und Jakob Fugger kauft sich den Kaiser. Die Welt steht Kopf, und viele Seiten sind unzufrieden. Luthers Abkehr von der üblichen Kirchenpraxis ist vor allem in der Abkehr vom rechten Glauben begründet, den er beim Papst in Rom beobachtet. Insofern bleibt Luther immer Theologe, im Unterschied zu Thomas Müntzer, der dann zum Bauernanführer wurde. Die Absurdität des Ablasshandels und die Merkantilisierung der religiösen Welt hält Luther für Verrat am Glauben. Mit seiner Kritik an der römischen Kirche ist er nicht allein. Auch andere sehen das raffinierte Spiel von Erlösungssehnsucht und Verzweiflung und durchschauen das korrupte System von Glauben und Geld. Zudem fühlen sich die deutschen Lande zunehmend ausgeblutet vom Peterspfennig und dem Ablass, die Papst Leo X. zum Aufbau Roms verbraucht, um sich und seiner Zeit ein Denkmal zu setzen. Zugleich zeigt Winkler, wie der Ablasshandel ein Kreditsystem auf die Wege bringt, dass auch gemeinnützige Dinge wie zum Beispiel die Erbauung der Brücke in Torgau ermöglicht. Die Inanspruchnahme des „Ketzers“ Luther durch Papst, Kaiser, Könige und Kurfürsten findet schließlich ihren Höhepunkt beim Reichstag in Worms. Winkler gelingt es, in die geschichtlich-kulturellen Hintergründe zu entführen und Luther darin zu verorten, zunächst als ohnmächtigen jungen Mann, später zunehmend als Anführer einer Bewegung, die sich breites Gehör verschafft.

Gab es einen Thesenanschlag und den Widerruf Luthers?

Der Autor rekonstruiert nun anhand von Briefen gut nachvollziehbar, was sich in Wittenberg und Worms tatsächlich abgespielt hat. Er räumt so auch mit falschen Legenden auf, die sich vor allem seit dem 19. Jahrhundert verbreiteten. Nachdem er als Theologieprofessor an der Wittenberger Universität und Prediger in der Wittenberger Stadtkirche erleben musste, wie die Menschen Wittenbergs, statt in seine Kirche zu kommen, nach Jüterbog oder Zerbst reisen, um dort für ihr Seelenheil Ablassbriefe beim Dominikanermönch Johann Tetzel zu kaufen, muss Luther etwas dagegen unternehmen. Also schreibt er Briefe gegen den Ablasshandel an seine Vorgesetzten. Den Briefen legt er tatsächlich 95 Thesen bei, die als Grundlage für eine Disputation über das Thema dienen sollen. Die Bischöfe weisen jedoch Luthers direkte Vorgesetzte nur an, auf den Aufmüpfigen mäßigend einzuwirken. Einige von ihnen begrüßen sogar Luthers Reformvorschläge. Luther sieht sich durch den wachsenden Druck genötigt, seine Thesen durch weitere Schriften zu präzisieren. Aber die Kurie reagiert auf den vermeintlichen Ketzer nun drastisch und eröffnet 1518 in Rom den Ketzerprozess gegen Luther. Winkler zeigt, wie Luther, der inzwischen als Ketzer verrufen ist, den Spieß umdreht und den Papst selbst als Antichristen exkommuniziert, bevor dieser ihn exkommunizieren kann. Schließlich muss der Kaiser das Urteil des Papstes nun noch von weltlicher Seite bestätigen. Dies geschieht auf dem Reichstag in Worms. Der Weg dorthin dauert 14 Tage. In dieser Zeit leidet Luther Todesängste. Zugleich predigt er unterwegs, sodass seine Anhängerschaft immer größer wird.

Luther glaubt nach wie vor an eine Disputation seiner Thesen in Worms statt an eine Aburteilung. Und tatsächlich gelingt es ihm, sich, auf sein Gewissen berufend, den Vorwürfen zu stellen und nicht zu widerrufen. Er wird für vogelfrei erklärt und verbannt. Unter der Hand gibt der Kaiser dem Kurfürsten von Sachsen, einem Befürworter der Reform, aber ein Zusatzprotokoll, das vereinbart, dass Luther in Sachsen nicht verfolgt wird. Daraufhin wird Luther vom Kurfürsten gekidnappt und auf die Wartburg verschleppt, wo er dann in 11 Wochen das Neue Testament ins Deutsche übersetzt. Damit entgeht er einem Schicksal, wie es Jan Hus oder später Thomas Müntzer erleiden mussten. Gleichwohl bleibt er in Sachsen eingesperrt. Doch spätestens als die ersten Folgen der Reformation zu sehen sind, nämlich der Auszug der Mönche aus den Klöstern sowie die Bücher- und Bilderverbrennungen, der Judenhass und die Bauernaufstände, will Luther wieder die Ordnung herstellen, für die er sich verantwortlich fühlt, und inszeniert sich schließlich als neue Macht, als Gegenpapst.

Worin liegt die Modernität Luthers nach Winkler?

Luther wird mit dem Auftritt in Worms zum ersten modernen Menschen, zu einem Menschen, der qua Berufung auf sein eigenes Gewissen zum ersten Mal „Ich“ sagt und diesen Individualismus zu einem Argument erhebt. Das eigene Gewissen als oberste Instanz des Handelns, die über kirchlichem und weltlichem Recht steht, ist unangreifbar. Sein Gewährsmann ist ein gnädiger Gott, kein strafender.

Luther hat nicht nur in Deutsch gepredigt, er hat mit seiner Bibel-Übersetzung auch die deutsche Schriftsprache geprägt. Indem die Heilige Schrift auch zum Hausbuch anderer Nationalitäten wurde, die dem Vorbild folgten, schuf er nicht nur einen gehorchenden Untertan, sondern die Voraussetzung für einen denkenden und zunehmend selbstbewussten Menschen. Moral und Religion wurden so zu einer Gewissensentscheidung, Erlösung war ein Akt der Gnade Gottes – und nicht des Geldbeutels.

Wahrscheinlich, so Willi Winkler, würde es sogar die katholische Kirche nicht mehr geben. Denn auch hat sich durch die Reformation erneuert. Insofern hat jede Reform auch etwas Systemstabilisierendes. Und so endet Winklers Biografie mit der Empfehlung an Papst Franziskus, Luther heilig zu sprechen, um ihn endlich entsprechend zu würdigen.

Luther. Ein deutscher Rebell

Von Willi Winkler

Rowohlt, Verlag

Berlin 2016

640 Seiten, 29,95 Euro


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