Fear and Loathing in Lemberg

„Mordor kommt und frisst uns auf“ erzählt vom russigen Osten, der immer noch weiter östlich zu finden ist

Ziemowit Szczerek, der Autor des 2013 zuerst im polnischen Original erschienenen Romans Mordor kommt und frisst uns auf kommentiert mit der Figur des polnischen Reisejournalisten Łukasz Ponczyński ironisch zugespitzt den polnischen Umgang mit der semi-peripheren Lage in Europa. Nämlich indem man zum Trost den Blick auf die noch weiter östlich liegende Ukraine fokussiert. Wie seine Figur Łukasz war der 1978 geborene Szczerek ursprünglich Jurist, der sich später der Politikwissenschaft zuwandte und als Journalist Ukraine-Reportagen in Polen veröffentlicht.

Im Roman, der eher ein Mosaik aus Reiseepisoden als eine in sich geschlossene Erzählung darstellt, ironisiert Szczerek die überhebliche polnische Perspektive auf die Ukraine aufs Äußerste. Die Traveller nüchtern in Bussen, Marschrutkas und Elektritschkas von ihren Wodka-, Acid- und Potenzmitteltrips aus, während draußen die grünen Hügel Galiziens oder die grau-matschige Steppe vorbeiziehen. Wozu den polnischen Backpackern dieses Gaffen auf all die postsowjetische Abgewracktheit, Absurdität und Abgehängtheit der Ukraine dient, muss man sich beim Lesen nicht lange fragen. Auf den ausgetretenen Pfaden der polnischen Bruno-Schulz-Pilger im galizischen Drohobytsch buchstabiert es eine Ukrainerin für Łukasz aus: um einmal Urlaub vom Unterlegenheitsgefühl gegenüber Westeuropa zu machen. Um sich zu beruhigen, dass Polen nicht der abgehängte Osten ist, denn der Osten und alles Hinterwäldlerische liegen schließlich jenseits der nächsten Grenze. In der Ukraine. Und da Łukasz’ Landsleute auch in Reportagen wieder und wieder lesen wollen, wie in den von der K.u.K.-Monarchie geprägten Innenstädten Galiziens der Putz bröckelt, wie die Mehrzahl der ukrainischen Autos beim Fahren fast auseinander fällt und wie die Menschen vor traurig-grauen Plattenbauten trotzdem wie mit dem allgemeinen Niedergang versöhnt in der Sonne sitzen, verdient Łukasz Geld mit dem Schreiben. Denn polnische Internetportale kaufen ihm seine Gonzo-Stories liebend gern ab.

Dem setzt Ziemowit Szczerek Łukasz’ Ironisierung derer entgegen, die im exotischen Osten ihren Kick suchen. Und von Zeit zu Zeit widerspricht auch jemand in der Ukraine. Lässt sich wie Taras Kabat, der aus einer polnisch-ukrainischen Familie in Galizien stammt, nicht wie ein Zootier bestaunen, das zum „beschissenen Vergnügen“ der Besucher in der Ukraine lebt. Das sind die Momente, auf die man wartet. Während eines von Rauschwolken verhangenen Fear-and-Loathing-Roadtrips erträgt Taras die Überheblichkeit der polnischen Mitfahrer nicht mehr. Er bricht die Reise in einem auf Sushi-Bar getrimmten Tschernowitzer Imbiss einfach ab und verschwindet. Auch am Schluss ist Taras ausschlaggebend dafür, dass Łukasz’ Schwanken zwischen Selbstironie und gleichzeitigem Genießen des Kicks aus dem „ukrainischen Hardcore“ ein Ende hat.

Darüber hinaus zeigt der Roman, dass es mit einem bloßen Herabschauen der Polen auf den Osten sowie der Kritik an dieser Haltung nicht erledigt ist. Denn es wirken gleichzeitig Anziehungs- und Abstoßungskräfte, Eindeutigkeit ist hier nicht zu haben. Und auch in innerukrainischer Perspektive wird es zwangsläufig vielschichtig. Auf einer weiteren Reise von Taras und Łukasz – man hat sich versöhnt –, erhebt sich in der von mitteleuropäischer Zivilisation phantasierende Taras exakt in der Manier der polnischen Traveller über die Ostukrainer. Taras braucht als westukrainischer Separatist eigentlich gar nicht in Saporishje anzukommen, um festzustellen, wie es um die Ukraine östlich seiner Heimat Galizien steht: „Die Dreckskerle hier, sitzen bis zu den Ohren in der eigenen Scheiße und haben seit Polowzern und Petschengen nichts geändert. […] Das ist es, was der elende verrusste Osten aus den Menschen macht. Dreckskerle und Huren.“ Der Osten ist also immer eine Abteilung weiter, egal ob man aus Krakau oder Lemberg kommt.

Ein Schwanken, das sich das ganze Buch über nicht recht austarieren will, ist das zwischen einem prononciert schnodderigen Ton und dem Meta-Sprech eines Jungakadmikers Łukasz. Klar, „Gonzo heißt Schnaps, Kippen, Drogen und Weiber. Und Vulgärsprache.“ Und gerade das Rotzige und Testosterongetränkte dieses Gonzo-Stils hat der Übersetzer Thomas Weiler überzeugend ins Deutsche übertragen. Dagegen wirken die Selbstreflexionen des Erzählers in ihrem dezidiert intellektuellen Ton an einigen Stellen etwas gewollt, was keineswegs dem Übersetzer anzulasten ist.

Mordor kommt und frisst uns auf funktioniert insgesamt sehr gut als unterhaltsames Lehrstück in Sachen innereuropäischen Orientalismus, auch wenn wiederum irritiert, dass das so explizit benannt wird. Wer sich nicht allzu sehr ertappt fühlt, kann das Buch auch als Reiseführer durch die Ukraine lesen, besonders durch ihren westlichen Teil. Den bereist Łukasz nämlich neben der Krim („sozialistische Sowjetrepublik Eden“), Odessa, Saporishje und Dnipopetrowsk besonders ausgiebig.

Mordor kommt und frisst uns auf

Von Ziemowit Szczerek

Aus dem Polnischen von Thomas Weiler

Voland & Quist

Dresden und Leipzig 2017

240 S., 20 €


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