Das serielle Prinzip im Abstiegsroman

Virginie Despentes’ neue Trilogie der kollektiven Depression

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Ihr Werk wird mit Balzacs Die menschliche Komödie verglichen. Es wird als grandioses Sittengemälde und fulminanter Gesellschaftsroman gelobt. Manche feiern es gar als literarische Sensation aus Frankreich: Virginie Despentes’ weit über 1.000-seitige Trilogie Das Leben des Vernon Subutex. Der erste Band des Romans erschien in Frankreich am 7. Januar 2015. Das ist der Morgen, an dem die Brüder Kouchi die Redaktion von Charlie Hebdo stürmten und ein Massaker anrichteten. Zwei Jahre später, im Sommer 2017, erschien in Frankreich der dritte Band. In Deutschland ist nun endlich die Übersetzung des ersten Bandes auf dem Markt. Wochenlang führte Despentes damit die Bestsellerlisten an. Die Kritiker sind auch hierzulande des Lobes voll. Despentes, bekannt als neo-feministische Skandalautorin, wird inzwischen als geistige Schwester von Michel Houellebecq gehandelt: Gleiche Sujets, dieselbe Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Gegebenheiten, ähnlich Sprache am Puls der Zeit. Schon mit dem ersten Band der Trilogie räumt Despentes den Prix Anaїs Nin ab. Seit letztem Jahr ist sie Jury-Mitglied der Académie Goncourt, dem wichtigsten Literaturpreisforum im frankophonen Raum.

Zu viele Lorbeeren?

Gegebenenfalls drückt sich in diesem Lob auch nur die Sehnsucht blasierter Kritiker nach Superlativen aus. Vielleicht braucht Despentes solche überschwänglichen Vergleiche gar nicht. Denn ob das Werk tatsächlich literarisch so wertvoll ist und wir es mit einer „unermesslichen Autorin“ zu tun haben, wie Le Grand Journal vermerkt, muss das deutsche Publikum noch beurteilen. Wer sich die Lektüre nämlich nicht auf Französisch zutraut, muss sich noch bis zum Frühjahr 2018 gedulden. Erst dann erscheint der zweite Band auf Deutsch. Dieser wurde wieder von Claudia Steinitz übersetzt. Bleibt zu hoffen, dass der deutsche Leser nicht allzu lange auf die Übersetzung des dritten Bandes warten muss, um sich wirklich ein umfassendes Urteil bilden zu können.

Vernon Subutex, sozialer Abstieg und Isolation

Anders als in ihren vorangegangenen Romanen, bei denen vor allem Frauen die Protagonistinnen sind, geht es in Despentes neuestem Werk kurz gesagt um den sozialen Abstieg eines Plattenladen-Besitzers in Paris. Der Roman spielt Ende 80er Jahre und reicht bis ins Heute. Hauptfigur ist ein Mann mittleren Alters: Vernon Subutex. Das ist kein besonders eingängiger Name für einen Protagonisten. Aber dieser Name kommt nicht von ungefähr: Zum einen bezieht sich der Vorname des Titelhelden Vernon auf den französischen Schriftsteller, Musiker und Leiter der Plattenabteilung von Philips Boris Vian. Dieser publizierte 1946 einen kurzen Roman, angeblich nur eine Pastiche eines Sex-and-Crime-Stückes des wahrscheinlich erfundenen afro-amerikanischen Autors Vernon Sullivan. Zum anderen spielt der Nachname auf das Drogen-Substitut Subutex an, das seit den 80er und 90er Jahren vielen Szenegängern der westlichen Welt den Kick gibt. Die 80er/90er sind im Roman auch die Zeit, in der Vernon Subutex einen der bekanntesten Plattenläden in Paris, das Revolver, besitzt. Subutex kennt sich mit Musik aus. Alle kennen ihn. Das Geschäft läuft gut. Bei Mädchen muss er sich nicht anstrengen. Die Mädchen erliegen seinem Charme. Alles bestens.

Doch die Zeiten ändern sich. Und in dieser Zeit des Wandels setzt der Roman ein. Die ökonomische, politische und moralische Krise erreicht auch Frankreich: Gentrifizierung, Digitalisierung, Rechtsruck. 2006 muss der Plattenladen schließen. Die Miete ist zu hoch. Die Digitalisierung nimmt zu. Keiner braucht mehr Platten. Der Laden geht Pleite. Aber Subutex kann sich noch eine Weile mit dem Verkauf von Restbeständen über Wasser halten. Der inzwischen fast 50-Jährige meldet sich beim Arbeitsamt und übernimmt Gelegenheitsjobs. Eine Weile kommt ihm sein alter und inzwischen erfolgreicher Band-Kollege Alex Bleach zu Hilfe und zahlt für ihn die Miete. So kommt mit dem wirtschaftlichen Niedergang auch das soziale Leben Vernons ins Wanken. Der früher sozial gut Vernetzte zieht sich in seine Wohnung und ins Internet zurück und isoliert sich. Einladungen nimmt er nur noch selten an. Die Spirale der Depression frisst sich ins Negative – individuell wie gesellschaftlich.

Vom Plattenladenbesitzer zum Clochard

Während man über die erfolgreiche Vorgeschichte Vernons als Plattenverkäufer und Band-Mitglied nur retrospektiv etwas erfährt, setzt Despentes an den Beginn ihres Buches den Tod. Am Anfang wird daher erst einmal gestorben. Das wilde Leben hat einige Kumpels von Vernon stark mitgenommen: Bertrand stirbt an Kehlkopfkrebs, Jean-No kommt bei einem Autounfall um Leben und Pedro erleidet – wahrscheinlich aufgrund von zu viel Kokain – einen Herzstillstand. Als sich nun auch noch Alex Bleach, der Musik-Star, mit einer Überdosis in einer Hotelbadewanne das Leben nimmt, entgleitet Vernon sein leichtes Leben. Mit dem Tod von Alex Bleach enden auch die Mietzahlungen. Denn längst schon kann Subutex seine Wohnung bei den radikal gestiegenen Mieten in Paris nicht mehr halten. Vernon Subutex wird, wie so viele Mittelständler nicht nur in Paris, Gentrifizierungsopfer. Vernon fliegt aus seiner Wohnung. Er nimmt nur das Nötigste mit, u.a. eine Videokassette seines Musiker-Freundes Alex Bleach. Vernon ahnt, dass man diese Bänder ggf. noch an die Medien verkaufen könnte. Denn die Kassette enthält Alex Bleachs „musikalisches Testament“.

Trotzdem sitzt Subutex jetzt auf der Straße. Keine Wohnung, kein Geld, keine Anerkennung. Doch seine Situation scheint dem Leichtfuß noch gar nicht richtig klar zu sein. Denn immer wieder gelingt es ihm, bei alten Bekannten unterzukommen. So hüpft er über die Sofas und durch die Betten von Freunden und Freundinnen seiner Vergangenheit. Die oft eingeschlafenen Kontakte reaktiviert er über Facebook. Vernon begegnet auf diese Weise neben dem abgehalfterten Ex-Mitglied der Punkband Nazi Whores und den postfeministischen Porno-Queens Pussy-Tussis auch Banlieue-Machos, die ihre Frauen schlagen, aber ihre Kinder lieben. Eine Weile kommt er noch unter bei den scheinbar Erfolgreichen, normal Gescheiterten oder bei durchgeknallten superreichen Partytypen in riesigen Luxus-Appartements unter. Auch bei seiner ehemaligen Band-Kollegin Emilie, die er wie die anderen Band-Mitglieder auch inzwischen fast vergessen hat. Aber wirkliches Interesse an den Menschen hat er schon nicht mehr. Bald gehen ihm auch die Notlügen und der Charme als Musikkenner aus.

Die große Depression: Abstiegsangst und Anspruchsdenken

Irgendwann hat er alle Bekannten abgegrast. Nachdem Vernon endgültig auf der Straße sitzt, öffnet sich der Roman über den sympathischen Loser und seine Bekannten nun allmählich auch den Rändern der Gesellschaft. Da gibt es die tierliebende Obdachlose, die radikalisierte Muslima Aisha und einen rechten Schlägertrupp, der Hatz auf Obdachlose macht. Es sind Menschen, die sich in ihrer Lebensweise ebenso voneinander unterscheiden wie in ihren politischen Ansichten. Überall drängen sich Bilder und Gedanken auf, die der gut genährte dauerbeschäftigte Mittelstandsbürger nur als schlechtes Gewissen beim Weihnachtseinkauf zulässt: der Penner, der Loser, der Vagabund, der Ausländer, die von der Gesellschaft Abgehängten. Ohne zu moralisieren spürt der Roman so vor allem den Zusammenhängen nach, die in den letzten Jahrzehnten europaweit vonstattengehen: von der Merkantilisierung der westlichen Gesellschaft und dem Ausstoßen großer Teile der Bevölkerung, die früher zur Mittelschicht gehörten, über die Islamdebatte bis zum Aufstieg der Rechten. En passant entsteht ein gesellschaftliches Kaleidoskop einer sich betäubenden Gesellschaft und deren Problemlagen, ein Querschnitt durch die Kühlschränke und Fernseher aller Gesellschaftsschichten. Schmerzlich wird bewusst: Es ist unsere europäische Gesellschaft, die zerbröselt.

Nach der Hälfte des Buches wird klar, dass Despentes offenbar das Gefühl enttäuschter Hoffnungen und Lebenspläne in der Zeit der Jahrtausendwende mit ihren Figuren teilt. Abstiegsangst mischt sich mit Anspruchsdenken. Alle klagen, dass sie von allem zu wenig hätten: Geld, Ruhm, Religion, Liebe, gesellschaftliche Anerkennung. Was die Personen, die Vernon aufsucht, verbindet, ist vor allem die Empörung darüber, dass das Versprechen einer gerechteren und glücklicheren Gesellschaft eine Illusion war. Offenbar wird die kollektive Depression der Nachkriegsgesellschaft. In ihr muss jeder allein ums Überleben kämpfen. Die losen sozialen Kontakte werden pragmatisiert und über Netzwerke aufrechterhalten. Und unterdrückte Wut bricht sich als fehlgeleiteter Trieb Bahn, indem sie als Ressentiment ihre brachiale Gewalt zu den Schwächsten durchreicht. Es sind letztlich diese moralischen Verwüstungen, die die ökonomische Krise in den westlichen Gesellschaften der letzten Jahrzehnte anrichtete: Gentrifizierung urbaner Räume, Verarmung breiter Bevölkerungsgruppen, die Beschleunigung dieses Prozesses durch Digitalisierung sowie die Auflösung fester Bindungen.

Von der Punkrockerin zur Literatur-Ikone

Virginie Despentes trifft damit den Nerv der Zeit. Denn sie kennt sie alle, die Gescheiterten und Resignierten. Und sie weiß, wovon sie spricht, vereinigt sie doch einige von ihnen in sich selbst. 1969 in Nancy geboren, war die Schriftstellerin unter anderem Punkrockerin, Plattenverkäuferin und Prostituierte. Ihr Künstlername Despentes bezieht sich auf einen Lyoner Stadtteil. 1993 schrieb sie mit 23 Jahren ihren ersten Roman Baise moi. Dessen Verfilmung, ein Jahr später, schlug nicht nur in Frankreich wie eine Bombe ein. Sie führte damals selbst Regie. Dieses Debüt wurde zum Skandal, zuweilen verboten. Das war Ansporn genug, weitere Bücher folgen zu lassen. Viele davon haben mit ihrem eigenen Leben zu tun. In ihnen wird mit drastischer Sprache von den Randexistenzen der französischen Großstädte erzählt, von Menschen jungen und mittleren Alters. Selten sind es die „Normalen“, in Lohn und Brot und Familie Stehenden.

Mit dem Roman Subutex wandelt sich sowohl die Perspektive als auch das Sujet. Stand in ihren vorangegangenen Büchern – wie bei Houellebecq – noch Wut, Gewalt und Sexualität im Vordergrund, gilt das für Vernon Subutex so nicht mehr. Vielmehr ist sie nun den Gründen auf der Spur, was diese depressive Stimmung im Land auslöst. Bezeichnenderweise begann sie diesen Roman 2010, als sie aus Barcelona nach Paris zurückkehrte. Dort hatte inzwischen die Immobilienkrise gewütet und Zehntausende, auch Mittelständler, obdachlos gemacht. Was sie als Eindruck von dort mitnimmt und im Roman beschreibt, erlebt sie nach ihrer Rückkehr auch in Frankreich. Sie sieht, dass ihre Freunde und Bekannten mit 50 zum Teil keine Arbeit mehr haben, vom Leben geohrfeigt und frustriert sind. Lebenspläne gingen nicht auf, wirtschaftliche und politische Resignation werden zur Grundstimmung einer ganzen Generation und zeigen ihre gefährlichen Auswüchse.

Das Serielle als Chance zum Perspektivwechsel

Diese resignative Atmosphäre spiegelt sich auch in Despentes’ Sprache wieder. Die war bisher bekannt durch Direktheit, Schroffheit und einen Spritzer Zynismus. Mit Subutex ist auch das anders geworden. Zwar wirken die Figuren immer noch rebellisch und laut. Erstmals aber sind auch leise und sich nach Beständigkeit sehnende Töne zu hören. Despentes’ Sprache scheint milder geworden zu sein. Die Autorin hinterlässt so einen zuweilen verstörten Leser, der beinahe noch Verständnis dafür aufbringt, warum Patrice, der Aushilfsbriefträger, seine schwangere Frau schlägt, oder warum Xavier, der glücklose Drehbuchautor, Flüchtlinge genauso hasst wie seine Kollegen.

Vielleicht hat sich Despentes’ Sprache mit diesem Roman auch deshalb geändert, weil sie erstmals einen Mann in den Mittelpunkt eines Romans stellt und dessen Denk- und Handelsweise nachvollziehbar machen will. Insofern kann dieses ungewohnte Zuviel an Empathie als neue Stärke ausgelegt werden: Denn Despentes denunziert ihre Figuren nie. Vielmehr verleiht sie deren Ängsten, Nöten und Wut einen prägenden Nachdruck beim Leser. Sie lässt einerseits spüren, was es bedeutet, eine Großstadt ohne Geld oder Wohnung zu erleben, gedemütigt zu werden und den Lebensmut zu verlieren, andererseits aber auch sorglos und verantwortungsfrei in den Tag zu leben, latent gewaltbereit zu sein oder emotional bindungslos.

Despentes zeigt aber auch, wie sich das weibliche Geschlecht im männlichen spiegelt. Deswegen ist – und hier zeigt sich dann doch eine Fortsetzung und Parallele zu ihren vorangegangenen Romanen – das Körperliche auch bei Subutex ein Thema, etwa in der Beschreibung des Beischlafs mit einer transsexuellen Person, in die sich Subutex verliebt wie in sein Alter ego. Überhaupt ist das Thema Wandel eine der am stärksten hervortretenden Auffälligkeiten des Buches, und zwar im verständnisvollen Blick auf die körperlichen und auch geistigen Verwandlungen der Menschen und ihrer Körper: Eine dünne Frau frisst sich einen Schutzpanzer an, andere fühlen sich zu dick, zu hässlich oder im falschen Körper und greifen zu chirurgischen Mitteln, eine Christin konvertiert zum Islam, auch um ihren Körper den Blicken nicht aussetzen zu müssen.

Die Brüche und Sprünge im Roman stehen dem empathischen Umgang mit den Figuren allerdings diametral entgegen. Sie ergeben sich aus der seriellen Aneinanderreihung der Unterschlupforte Vernons. Sie sind nicht nur hart, sondern wirken in ihrer Unvermitteltheit schroff. Sie ergeben sich aus der wahllosen Zusammensammlung vergangener Bekannter per Internet, die sehr verschiedene Lebenswege einschlugen. Daher hat es auch den Anschein, dass der Plot des ersten Buches zuweilen holpert. Einziges Verbindungsglied bleibt die Figur Subutex. So gibt das serielle Moment des Romans nicht nur die Chance auf einen permanenten Perspektivwechsel der Akteure, sondern lässt Vernon als jemanden erscheinen, bei dem mit dessen Abstieg der Gesellschaft etwas verloren geht, der einfach nur Pech hatte und dem die Zeiten übel mitgespielt haben. Es kann zwar jeden treffen. Aber so harmlos und individuell, wie es scheint, ist es nicht. Vielmehr gehorcht das Prinzip des seriellen Scheiterns, das Despentes aus dem Fernsehen übernimmt, einem strukturellen Muster. Insofern verwundert es nicht, dass das Buch in Frankreich ab 2018 als Serie verfilmt wird.

Problematisch an diesem Zuschnitt des Romans ist, dass einen die Themen und Figuren in ihrer Vielfalt und seriellen Aneinanderreihung nahezu erschlagen. Man empfindet nicht nur Sympathie für Subutex, sondern auch Mitleid mit all den gescheiterten Existenzen mit ihren ehemals großen Plänen und Zukunftsentwürfen, mit ihren Verstrickungen ins Leben und vorzeitig abgeschotteten Weltbildern. Solche Figuren und Sujets sind zwar bereits aus Michels Houellebecqs Romanen bekannt. Doch während dort Zynismus und Misanthropie den Figuren alle Sympathie wegätzt, bringt Despentes’ Empathie sie auf unheimliche Weise näher.

Was folgt: Charlie Hebdo und Bataclan – Terrorismus in Paris

Endete der erste Teil des Romans auf dem Tiefpunkt seines Protagonisten, nämlich als Obdachloser auf der Straße, so erzählt der zweite Band – so viel als kleiner Vorgeschmack vorweg – davon, wie sich Vernons Freunde, Kumpel und Ex-Freundinnen zusammentun, um Vernon einerseits aus seiner prekären Lage herauszuhelfen, andererseits um an die Videobänder von Alex Bleach zu kommen, die inzwischen hoch dotiert sind. Sie organisieren sich über Facebook, gründen eine Whatsapp-Gruppe. Später wird ein Café zur Anlaufstelle und zum Hauptquartier bei der Suche nach Vernon.

Stärker noch als im ersten Band rücken in den folgenden zwei Bänden die politischen Ereignisse dem Leser auf den Leib. So spielen der Terroranschlag vom 13. November 2015 im Pariser Konzerthaus Bataclan und der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo eine Rolle ebenso wie der Aufstieg Marine Le Pens und die populistische Krise. Auch die Folgen der dramatischen Gentrifizierungsdynamik werden noch einmal aufgenommen. Diese machen Paris und andere Großstädte zu Orten, in denen heute nur noch leben kann, wer reich ist oder eine Immobilie geerbt hat. Ob der Rückzug der Figuren aus dem urbanen Lebensraum, wie er für den letzten Band angekündigt wird, jedoch eine Antwort auf die dringenden gegenwärtigen Fragen gibt oder eher die Resignation vor den globalen wie urbanen Problemlagen der Menschen weitertreibt, bleibt bis zum Erscheinen der Bände nächstes Jahr abzuwarten.

Sympathie für verfehlte Leben und Warnung vor gefährlicher Radikalisierung der Mitte

Am Anfang wollte sie nur einen Roman über Rockmusik schreiben, prall gefüllt mit Leben, Mitleid und menschlichen Abgründen, wie sie in einem Interview preisgab. Herauskam ein Buch über eine Gesellschaft, die vor den Herausforderungen der Gegenwart resigniert. Ausgelöst wird diese Resignation durch ein Gefühl, von der Zeit abgehängt worden zu sein. Empört schaut der Leser auf das Ende des Traums von der Machbarkeit eines Lebensplanes angesichts des bislang unvorstellbaren gesellschaftlichen Wandels. Die Wut entlädt sich im Misstrauen und Hass auf alle, die anders – ob ärmer oder (erfolg-)reicher – sind. Die angestaute Wut erwächst aus der Nachkriegs-Illusion, dass die politischen und ökonomischen Verhältnisse sicher und beständig seien. Doch diese Blase ist geplatzt. Beschrieben wird die Radikalisierung der europäischen Mittelschicht, die weithin in ihrer Gefährlichkeit unterschätzt wird und der es an wirklicher Solidarität mangelt.

Überwältigt von den Ereignissen ist es Zeit, sich wachzurütteln aus der Illusion. Denn entgegen der bequemen Annahme, dass die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse stabil seien, zeigen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse der letzten Jahrzehnte in einem Wandel, den die Welt noch nicht gesehen hat. Alles steht Kopf. Dieser Wandel hat jedoch etwas von einem Taumel. Der Leser des Romans wird wie seine Figuren hin und her geschleudert zwischen Milieus und politischen Ansichten. Die Welt ist trotz seiner vorgeblichen Transparenz undurchsichtiger, komplexer und kapitalistischer geworden. Einfache Antworten sind wohl in einer Zeit schleichender radikaler Umwälzungen und sozialer Diffusität nicht zu erwarten.

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Kiepenheuer & Witsch

Köln

Band 1, 2017, 399 Seiten, 22 Euro

Band 2, 2018, 400 Seiten, 22 Euro


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