Wenn Gabelstapler Walzer tanzen

Thomas Stuber ist mit „In den Gängen“ ein Liebesfilm dritter Ordnung gelungen

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Liebe zwischen Supermarktregalen: Sandra Hüller und Franz Rogowski als Marion und Christian. (Foto: Verleih)

„Willkommen in der Nacht, Kollegen.“ So begrüßt der Chef vom Dienst die Belegschaft eines Großmarktes am Stadtrand von Leipzig zur Schicht. Und legt dann auch gerne mal eine Klassik-CD ein, die in den riesigen, neonbeleuchteten und streng symmetrischen Hallen die Einräumarbeiten leise untermalt. Leise ist auch Christian (Franz Rogowski). Er ist der Frischling im Team. Nachdem er auf dem Bau gefeuert wurde, versucht er hier nicht nur in einen neuen Job, sondern auch in ein neues Leben zu starten. Bruno (Peter Kurth) ist die „Nummer Eins“ der Getränkeabteilung. Er nimmt sich seiner an und wird nach anfänglicher Distanz zu einem väterlichen Freund und Mentor.

Der Mikrokosmos Großmarkt hat seine eigenen Regeln, in die man von einem alten Hasen eingeweiht werden muss. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit Gabelstapler, Ameise, Hubwagen und Co. wird Christian nach und nach ein vollwertiges Mitglied dieser eigenartigen Großmarktfamilie, die sich allesamt aus liebenswerten Außenseitern und Abgehängten zu rekrutieren scheint. Zu Marion (Sandra Hüller) von den „Süßwaren“ entspinnt sich obendrein eine zarte Liebesgeschichte. Die beiden umtänzeln sich vorsichtig – am Kaffeeautomaten, in den Gängen. Worte fallen wenig, es sind die kaum merklichen Gesten, die zeigen, wie sehr sich die beiden zueinander hingezogen fühlen. Ihre Annäherung gestaltet sich allerdings schwierig, Marion ist verheiratet – „mit einem Mann, der ihr nicht gut tut“, wie Bruno meint. Bruno ist eh jemand, der nur das sagt, was absolut nötig ist. Gegen Ende des Films ist er weg, und keiner weiß was. Christian wird sein Nachfolger und die neue „Nummer Eins“ der Getränkeregale. Ob er Marions Herz gewinnen kann, bleibt offen – zumindest lauschen sie in der Schlusseinstellung gemeinsam dem Rauschen der Staplerhydraulik, einem sanften Geräusch, das an Wellen und Meeresbrandung erinnert – etwas, von dem die Palmenfototapete im Pausenraum so lange schon sehnsuchtsvoll erzählt.

Den neuen Film nach Herbert (ebenfalls mit Peter Kurth und nach einer Kurzgeschichte von Clemens Meyer) des Studenten-Oscar-Gewinners aus Leipzig, Thomas Stuber, inhaltlich nachzuerzählen ist nur insofern hilfreich, um grob Setting und Plot der Geschichte anzureißen; damit man als Zuschauer weiß, um was es die nächsten 125 Minuten in etwa gehen wird. Zwei Stunden übrigens, von denen keine Sekunde zu viel ist, nein, eher zu wenig. Grundsätzlich geht es hier auch weniger um das „Was“, sondern um das „Wie“. Das Presseheft beschreibt In den Gängen als Liebesfilm. Das ist marketingtechnisch verständlich und auch nicht gelogen. Jedoch ist es ein Liebesfilm in einem sehr viel weiteren Kontext, ich bezeichne ihn einfach mal mutig als „Liebesfilm dritter Ordnung“. Dazu gleich mehr.

In den Gängen, der bei der diesjährigen Berlinale Premiere feierte (und 2015 bereits eine Auszeichnung fürs beste Drehbuch erhielt) hat nicht nur den Deutschen Filmpreis 2018 verdient, sondern auch den Europäischen, wenn es nach mir ginge. Selten wurden auf der Leinwand derart poetisch und entwaffnend zärtlich die Figuren und ihre oftmals traurigen Geschichten wie Zwiebelhäute entblättert. Ich möchte Thomas Stuber offiziell adeln: Er ist für mich der Fellini von Leipzig. Ähnlich wie der viel zu früh gestorbene italienische Großmeister des poetischen (Neo-) Realismus und seine französischen Vorgänger Carné und Renoir reiht sich Stuber mit diesem zauberhaften Werk jetzt in diese Ahnengalerie der Filmgeschichte ein.

Was ich mit „Liebesfilm dritter Ordnung“ meine: Es ist diese warme Liebe zu Milieu und Sujet, zu den Charakteren – und zwar allen, ausnahmslos. Letztlich aber auch zum Publikum. Die Geschichte turnt hier keine mühsam am Dramaturgenreißbrett konstruierten Twists, die Kamera (Peter Matjasko) schwebt und beobachtet präzise selbst feinste Nuancen – seien es diese unzähligen stummen Blickwechsel oder jene Details in der Ausstattung, wie der arme, mit Bieretiketten geflickte Hase am Gabelstapler, der als diegetische Metapher für die trotz allem stolze Zerrissenheit der Figuren dient. Nichts wird wie in den meisten Kino-TV-Koproduktionen bis zum Exzess für ein vermeintlich unaufmerksames Publikum auserzählt, das das Geschehen nebenbei und manchmal nur mit halbem Ohr verfolgt, vielleicht beim Bügeln – nein, dieser großartige Film schwelgt in genauen und sorgsam kadrierten Einstellungen, bzw. meistert generell eine Verknappungen bis zum Essentiellen. Derart gebaut ist er ausschließlich über die Bildebene zu verstehen. Kongenial wird er dabei unterstützt durch das Sounddesign und die oftmals ironisch kommentierende Filmmusik.

In den Gängen ist – im doppelten Sinne – ein wunderschönes „Kino der Blicke“. Getragen wird dies durch das überragende Schauspieler-Ensemble, das sich mit sichtlicher Lust auf diese Erzählweise einlässt. In den schönsten Momenten erinnert es an ein somnambules Spiel – so wie der ganze Film in seiner lyrischen Erzählweise einer gewissen Traumlogik zu folgen scheint. An einer Stelle, als die Kamera über den leeren, nächtlichen Parkplatz schwenkt, spricht Christian aus dem Off: „Wir sind Schlafende“. Umso schöner ist es – quasi als Ouvertüre – bereits während der ersten Minuten des Films den zur Nacht erwachenden Großmarkt zu bestaunen, in dessen Gängen die Gabelstapler zu den Klängen von Johann Strauß’ „An der schönen blauen Donau“ einen zärtlichen Walzer miteinander tanzen. Cinema as cinema can.

Nicht nur die Tatsache, dass sich der Film genau jene Zeit nimmt, die es braucht – für die Stille, für die Nachbilder in Kopf und Bauch – ist bemerkenswert. Ebenso ist es die Art, wie er einen unaufdringlichen Kommentar liefert zum status quo in Ostdeutschland nach fast 30 Jahren „Wende“. Unzählige Einstellungen zeigen stumme Menschen, die scheinbar gefangen hinter Mauern, Gittern und Wänden verharren und sehnsuchtsvoll auf einen kaum erreichbaren Horizont des kleinen Glücks blicken. Trotz aller Unbill und enttäuschten Hoffnungen bietet der Mikrokosmos Großmarkt hier eine solidarische und äußerst warme Enklave in einer kalten Welt. „Was würdest du dir wünschen? Einfach so?“, fragt Christian, nachdem er Marion im trostlosen Pausenraum ein Yes-Törtchen zum Geburtstag geschenkt hat – und sie antwortet: „Alles.“

Dem schließe ich mich an. In den Gängen hat alles, was man sich an Kinomagie und aktuellem Zeitbezug momentan wünschen kann. Es braucht mehr solcher Filme. An Empathie und Solidarität mangelt es genug und lautes Getöse kann niemals die Antwort sein.

Dass In den Gängen von der Leipziger Departures Film koproduziert wurde und auf einer Kurzgeschichte von Clemens Meyer basiert (der einen kleinen Cameo-Auftritt als Marions Ehemann hat), sei nur am Rande erwähnt.

In den Gängen

Deutschland 2018, 125 Minuten

Regie: Thomas Stuber, Darsteller: Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth

Kinostart: 24.05.2018

Am 24. April findet in den Passage Kinos die große Vorabpremiere mit dem Regisseur Thomas Stuber und den Darstellern Sandra Hüller sowie Peter Kurth statt.


Ein Kommentar anzeigen

  1. am Rande erwähnt sei auch nur, dass Clemens Meyer (zusammen mit stuber) auch das Drehbuch geschrieben hat, und dass die beiden dafür den den deutschen drehbuchgreis gewonnen haben!

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