Richard Clayderman der Generation Y

Der Neoklassik-Komponist Federico Albanese gastierte im Neuen Schauspiel Leipzig – und erinnerte zuweilen an den Singsang der Schlange Kaa

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Lebt in Berlin: der Italiener Frederico Albanese (Foto: Federico Albanese/Valerio Bassan)

An einem sommerlichen Sonntag, dem 22. April, fand in Leipzig ein Gipfeltreffen statt. Zwei Künstler der Neoklassik – ein Genre, das ein immer größeres Publikum erreicht – gastierten zeitgleich in der Stadt: Nils Frahm und Federico Albanese. Während Ersterer (und neuer Superstar dieser Musikrichtung) ins edle Gewandhaus gerufen hatte und die Tickets bereits wenige Tage nach Verkaufsstart vor ein paar Monaten vergriffen waren, lockte der Wahlberliner Albanese ein eher eklektisches Publikum in einen nicht ganz so feinen Hinterhof der Lützner Straße, wo das Neue Schauspiel Leipzig seinen Sitz hat, und verzauberte seine (hauptsächlich weibliche) Zuhörerschaft mit Indietronica-unterstützten Pianoklängen.

Mit dem alten Flügel, an dem er Platz nahm, hatte Albanese jedoch irgendwie zu kämpfen. Das Instrument musste vor der Veranstaltung erstmal anständig ausgesaugt werden, erklärte er nach dem ersten Set von Stücken amüsiert, aber auch müde. Er wirkte generell erschöpft während des ganzen Konzerts, was möglicherweise an der Erkältung lag, die er gerade hinter sich hatte, sowie an den zahlreichen Auftritten, die er im Rahmen der Veröffentlichung seines neuen Albums „By The Deep Sea“ bereits absolvierte (erschienen Ende Februar 2018 bei Neue Meister/Edel, Berlin). Es ist das dritte Werk seit seinem Debüt vor vier Jahren bei dem Bochumer Experimental-Label Denovali und wurde von den gängigen Musikmedien übereinstimmend positiv bewertet. Albaneses romantisch-filmische Klangwelten, die sich aus Elementen der Klassik, Pop- und Ambientmusik speisen, finden Anklang. Auch als Komponist für Werbung, Film und Fernsehen ist er erfolgreich unterwegs. Seine Stücke sind in internationalen Filmproduktionen („Shadows In The Distance“, „Alles im grünen Bereich“), aber auch in Arte-Dokumentationen („Cinema Perverso“) zu hören.

Was an diesem Sonntagabend allerdings zu hören war – zumindest für meine Ohren –, waren anspruchslos arglose Kompositionen beziehungsweise reduzierte Live-Versionen seines Studiomaterials, das eigentlich mehr zu bieten hätte. So ergoss sich über gut 90 Minuten ein schon irgendwie, ja, frühlingssanfter, schmerzfreier Kadenzregen aus harmonischen Triolen und perlenden Arpeggios über das Publikum. Die Experimentierfreude jedoch, die in seinem Debüt-Album „The Houseboat And The Moon“ noch vorhanden war, fehlte hier gänzlich. Damals nahm er verschiedene Klavierstimmen mit einem 1969er-Uher-Royal-Deluxe-Tonbandgerät auf und würzte diese speziellen Sounds mutig mit Elektronika und Streichern. Das war eine anregende und überraschende Kombination. Beim Konzert im Neuen Schauspiel überraschte hingegen das Ausbleiben jeglicher Überraschung. Es blieb kaum mehr als kalkulierter Wohlklang – ab und an mit melancholischer Grundierung, natürlich. Aber: Simple Melodien, drei bis fünf Töne, die minutenlang variationslos erklingen, den Quintenzirkel brav und mit üppig Reverb rauf und runter, ein bisschen Pling-Pling aus dem Effektgerät oben drauf, das ist auf Dauer ermüdend.

Größen wie den US-Amerikaner Harold Budd oder den Ambient-Großwesir Brian Eno zählt Albanese zu seinen Einflüssen. Deren epochemachendes Album „The Pearl“ erschien im Jahre 1984. Im Jahre 2018 braucht es kein weiteres Werk, das dieses Vorbild in keinster Weise weiterentwickelt, sondern bloß schlecht kopiert.

Musik bedient bekanntlich mehrere Wahrnehmungsebenen. Man kann sie beispielsweise kognitiv erleben oder emotional – oder auch gleichzeitig auf beiderlei Art. Albanese macht das Tor meilenweit auf, um sich in die Tonfolgen ausschließlich gefühlsmäßig fallen zu lassen – und das Denken zu stoppen. Ein Großteil des Publikums ließ sich dankend darauf ein, davon zeugte der stets begeisterte Applaus, nachdem die Stücke verklungen waren. Mir gelang dies nicht – dazu waren mir die Kompositionen schlichtweg zu unterkomplex, in der Dramaturgie fast schon emotional manipulierend. Sie erinnerten mich – verärgert – an den einlullenden Singsang der Schlange Kaa im „Dschungelbuch“. Nach ungefähr dem vierten Stück kamen Widerwille in mir auf und Formulierungen wie „New-Age-Feel-Good-Geklimper“ und „Wellness-Musik für stressgeplagte Großstädter“ in den Sinn. Obwohl ich das Bedürfnis nach Eskapismus verstehen kann – jeder braucht hin und wieder eine gewisse Form von Auszeit, um die (über-) fordernde Realität zumindest für ein paar Momente auszublenden (Stichwort: Degeto-Schmonsens-Filme am Freitagabend) –, muss ich ihn nicht gutheißen. Ja, das Leben im 21. Jahrhundert ist komplex, unübersichtlich und zunehmend herausfordernder. Statt sich aber in einen behaglichen „Hygge-Kokon“ zurückzuziehen und sich in scheinbarer Sicherheit zu wiegen, fände ich es angebrachter, sich dieser verwirrenden Wirklichkeit zu stellen, weiter zu tanzen, mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen – vor allem: spielerischer, experimentierfreudiger, ergebnisoffener.

Nils Frahm ist nicht ohne Grund das momentane Lieblingskind der Neoklassik-Szene – und hat das sonntägliche Gipfeltreffen in Leipzig eindeutig dominiert. Auf seinem aktuellen Album »All Melody« (Erased Tapes Records, London) löst er sich von den bisher sehr erfolgreichen Konzepten des reinen Wohlklangs, stößt (ganz Avantgarde) in unbekannte, oftmals auch sperrige Gefilde vor – und den Erwartungen seines Publikums möglicherweise auch heftig vor den Kopf. Yann Tiersen wiederum, ein Genre-Mitstreiter aus Frankreich, weigert sich seit einiger Zeit schon, bei Konzerten das bekannte Amélie-Thema anzustimmen. Zurecht, finde ich. Niklas Paschburg, Hauschka, Max Richter oder der kürzlich verstorbene Jóhann Jóhannsson – sie alle spielen in einer anderen Liga als der, wie ich finde, etwas überschätzte Federico Albanese.

Michael Schleicher schrieb damals, in seiner Kritik in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen zur Verfilmung des Herrndorf-Romans „Tschick“: „Wer zur Musik von Richard Clayderman, zu dessen überzuckerter ,Ballade pour Adeline‘ aus seinem miesen Leben ausbrechen muss, weil im Lada, in dem diese Flucht stattfindet, nur eine Kassette des französischen Pianisten liegt, der ist entweder eine arme Sau oder ein besonders starker Charakter.“

Die Antwort liegt irgendwo da draußen, und ich maße es mir nicht an, dies zu entscheiden.

Federico Albanese

Livekonzert zum Release des Albums „By The Deep Sea“

22.04.2018, Neues Schauspiel Leipzig


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