Der Dschungel in Berlin

Antonia Michaelisʼ „Wind und der geheime Sommer“ ist ein facettenreicher Roman für große Kinder, der dem Alltag einen zweiten Boden einzieht

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Metafiktion geht ganz unintellektuell. Antonia Michaelis macht es vor. John-Marlon, 10 Jahre alt, ein unsportlicher Junge mit Brille, dessen Eltern keine Zeit für ihn haben und dessen Schulkameraden ihn maximal uncool finden, entdeckt eines Nachmittags ein loses Brett in einem Zaun. Hinter dieser Zaunlücke beginnt mitten in Berlin ein Dschungel. John-Marlon trifft eine zusammengewürfelte Truppe Kinder, die sich alle auf ihre ganz persönliche Weise vernachlässigt fühlen, obwohl sie alle aus liebevollen Elternhäusern stammen. Angeführt wird die Truppe von Wind, die ganz ohne Aufsicht in einem Bauwagen im Dschungel wohnt. Zusammen erleben diese Nicht-mehr-Kinder im Dschungel Abenteuer mit Piratenschiffen, Dinosauriern, unterirdischen Gängen und wilden Tieren. Als John-Marlon seiner Mutter von den Abenteuern erzählt, glaubt sie, ihr Sohn ziehe sich in seiner Einsamkeit in eine Welt zurück, die es nicht gibt. Dabei ist John-Marlon gerade dabei herauszufinden, dass eine Welt existiert, die über seine weit hinaus geht und deren Grenzen und Funktionen auch er zunächst einmal kennenlernen muss – nicht ohne dabei Fehler zu machen. Phantasie und Realität greifen geheimnisvoll ineinander. Den bohrenden Fragen seiner Mutter und der Psychologen ausgesetzt, beginnt selbst John-Marlon zu zweifeln, ob sein Dschungel und seine Freunde nicht möglicherweise rein erfunden sind.

Und noch eine Bedrohung wirft ihre Schatten voraus: Am Ende des Sommers wird Wind, die John-Marlon so sehr ins Herz geschlossen hat, verschwinden – niemand weiß, wohin. Als das Ende des Sommers tatsächlich kommt, gerät für einige Tage alles aus den Fugen und setzt sich mit klaren Strukturen wieder zusammen.

Antonia Michaelis schreibt die Geschichte eines Jungen, der das Spielen noch nicht verlernt hat und sich gleichzeitig schon mit Fragen nach Verantwortung, Liebe, Freundschaft und Leistung konfrontiert sieht. Eingebettet in den großen Bogen der Erzählung, in dem es um Freundschaft und Werte, um die Macht des Spiels und des Erzählens geht, sind zahlreiche Phantasie-Episoden, die den Leser ebenso wie den Protagonisten in fremde Welten mitnehmen, und für die sich lesenswert sind.

Bis auf das finale Crescendo, das mit Feuersbrünsten und dem Auftreten des Todes in Person den Bogen deutlich überspannt, ist Wind oder der geheime Sommer ein außergewöhnlich gelungener Lesespaß, der auf angenehm unpädagogische Weise lehrreich sein kann – wenn man will.

Antonia Michaelis: Wind oder der geheime Sommer

Oetinger

Braunschweig 2018

300 Seiten, 15 Euro


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