Kein Stammbaum, sondern ein Familienwald

DOK Leipzig: Antonia Hungerland hat mit „(M)Other“einen hoffnungsvollen Film über neue Familienformen und die Bedeutung von Mutterschaft gedreht

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Zu wem gehört das Kind im Bauch? Zu dem, der es am meisten liebt – so jedenfalls die Botschaft des Films „(M)Other“ (Foto: DOK Leipzig 2018).

Was macht eine Mutter zur Mutter? Nach dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch ist die Mutter eines Kindes die Frau, die es geboren hat. Wer aber, fragt sich Regisseurin Antonia Hungerland in ihrem Dokumentarfilm (M)Other, wäre die Mutter eines Kindes, das zwar, zum Beispiel, von ihr ausgetragen und geboren wurde, aber aus einem Spender-Spermium und einer Eizelle ihrer Ehefrau entstanden ist? Wäre sie oder ihre Frau dann die „richtige“ Mutter? Oder weiter gedacht: Was muss ein Mensch eigentlich können und sein, um eine „richtige Mutter“ sein zu können?

Ausgehend von der Erkenntnis, dass mit dem heutigen Stand der Reproduktionstechnik bis zu drei Menschen von sich sagen können, die Mutter desselben Kindes zu sein – die Eizellenspenderin, die Person, die das Kind austrägt, und die soziale Mutter, bei der es aufwächst – tritt Hungerland ins Gespräch mit Menschen, die durch ihre Familienformen, ihren Umgang mit dem eigenen Körper und seine reproduktiven Potenz oder ihre Haltung zum Frausein und dessen gesellschaftliche Implikationen die Naturhaftigkeit von Mutterschaft infrage stellen.

Da ist zum einen Hungerlands eigene Mutter, eine Soziologieprofessorin, die, als sie ihre Tochter im Westdeutschland der 80er-Jahre als „Tageskind“ in den Kindergarten gab, noch unverständige Blicke ernten musste. Da ist Angela, die in Kanada eine Agentur für Leihmütter gegründet hat und, seitdem sie selbst keine Schwangerschaften für andere mehr austragen kann, ihre Aufgabe nun darin sieht, als „Family Facilitator“ anderen zu helfen. Tina, die zum Zeitpunkt des Filmdrehs gerade schwanger ist mit einem Kind, das nicht ihres ist, sondern das von Alan und Ali, die aus gesundheitlichen Gründen selbst kein Kind mehr austragen kann. Außerdem eine weitere Frau, die sowohl als Leihmutter als auch als Eizellenspenderin gearbeitet hat. Wobei „Arbeit“ als Begriff hier insofern irreführend ist, als dass die kanadische Gesetzgebung beide Praktiken zwar erlaubt, eine Entlohnung aber, anders als z.B. derzeit noch in Indien, verbietet. Diese Frau erklärt lakonisch, sie habe nicht vor, 50.000 Kinder zu bekommen, könne einen Teil all der Eizellen, mit denen man als Frau geboren würde, also genauso gut als spenden. Dann ein kanadisches schwules Paar, dessen beide Kinder mithilfe einer Leihmutter und einer Eizellenspenderin zur Welt gekommen sind. Ein weiteres schwules Paar aus Deutschland, zu dessen Familie nicht nur die beiden Adoptivkinder aus den USA gehören, sondern auch Papas Freund. Und schließlich die alleinerziehende Mutter Anne aus Berlin, deren ältere Kinder aus erster Ehe entgegen aller Normvorstellungen von Mutterschaft nicht bei ihr, sondern beim Vater aufwachsen.

Allen ProtagonistInnen in Hungerlands Film ist gemein, dass sie sich mit der Frage, was eine Mutter ist oder sein soll, an irgendeinem Punkt auseinandersetzen mussten. Den dazu befragten Kindern stellt sich die Sache ganz einfach dar: Eine Mutter ist jemand, der Kinder hat. Weiter befragt, über welche Eigenschaften eine Mutter denn noch verfüge, wird genannt: Sie sei freundlich, liebevoll, manchmal frustriert, und zahle für alles. Eine vermutlich ziemlich akkurate Zusammenfassung dessen, was Elternschaft ausmacht.

Denn natürlich sind es nicht nur Mütter, die freundlich, liebevoll und manchmal frustriert für alles zahlen, sondern auch Väter. Einer der Papas aus Kanada berichtet von einem zweischneidigen Kompliment, das sein Mann und er von seinem Vater einmal bekommen hätten: Das Kind sei ja so gut geraten, kaum zu glauben, dass zwei Männer das so hingekriegt hätten. Die Vorstellung, nur Frauen seien in der Lage, sich vernünftig um Kinder zu kümmern, hält sich hartnäckig. Nur 10% aller alleinerziehenden Eltern in Deutschland seien Männer, erzählt Hungerland, dabei verschmölzen doch zur Zeugung eines Kindes das Erbgut einer Frau und eines Mannes zu exakt gleichen Teilen. Daran, dass es diese Schieflage gebe bezüglich der Verantwortlichkeit, der Kümmer-Rolle in Sachen Elternschaft, seien, so erklärt Hungerlands Mutter, leider nicht zuletzt die Frauen selbst mit schuld: Sie machten sich durch ihr Beharren auf den angeblich besonderen Kompetenzen, die nur sie als Mütter haben könnten, zu Komplizinnen des Patriarchats. Die Macht, die damit ausgespielt würde, sei allerdings die Macht der Ohnmächtigen.

Und dann gibt es noch „all the extra people“, von denen ein Kind geliebt und getragen werden kann. Menschen, die dazugehören, die Teil des gemeinsamen Lebens sind – im Falle der kanadischen Familien die Leihmütter und Eizellenspenderinnen beziehungsweise die Paare, für die man ein Baby ausgetragen hat, und all die dazugehörigen Geschwister und Freundeskinder, die selbstverständlich mit dem Wissen aufwachsen, dass es mehr als einen Weg gibt, ein Kind zu bekommen. Ein Thema, das in diesem Kontext auftaucht, und das viele Menschen kennen mögen, die Kinder mit aufziehen, aber weder Mama noch Papa sind, ist das der Benennung. Wer benannt wird, dessen Platz in der Familie ist fix und erzählbar. Den Sohn des Berliner Paares nervt es zwar ein bisschen, dass seine Eltern nicht nur Adoptiveltern und schwul sind, sondern auch noch in einer polyamourösen Beziehung leben – aber immerhin hat er auf die Frage, wer denn der junge Mann sei, der offensichtlich auch zur Familie dazugehöre, eine super Antwort: Seine Stiefmutter sei das.

Familie sei Liebe, sagt Angela, nichts anderes. Und einer der kanadischen Väter erzählt, er habe eigentlich aus Fotos an der Wand einen Stammbaum (family tree) kreieren wollen – aber es sei dann doch eher ein „Family forest“, ein Familienwald geworden. Das alles klingt schön, warm und hoffnungsvoll. Manchmal fast ein bisschen zu schön. Konflikte und Leiderfahrungen in und ums Familie Sein und –werden sowie der Klassenaspekt von Leihmutterschaft (diskutiert zum Beispiel hier: https://jungle.world/artikel/2014/36/klasse-schwangerschaft) wird in (M)Other weitgehend ausgespart. Die porträtierten Familien scheinen keine finanziellen Sorgen zu haben, können sich den „Extraaufwand“ der Familiengründung via Agentur oder Auslandsadoption offenbar leisten. Einzig bei Anne, der alleinerziehenden Mutter, die nur mit einem ihrer drei Kinder zusammen lebt, können schmerzhafte Konflikte bezüglich der eigenen Rolle als Frau und Mutter erahnt werden. Und da sowohl ihr kleiner Sohn als auch die Adoptivkinder des Berliner Paares schwarz sind, die Eltern aber weiß, spielt auch die Frage eine Rolle, wessen Kind als wem zugehörig wahrgenommen wird, welche Arten von Elternschaft in der gesellschaftlichen Wahrnehmung (nicht) präsent sind. Oder auch: Welche familiären Linien „gelten“ und welche nicht, wie im Falle der jüdischen Verwandten der Regisseurin, die erst nach 1945 mit Bleistift im Hungerlandschen Stammbaum nachgetragen wurden.

Antonia Hungerland hat mit (M)Other einen optimistischen Film über die Bedeutung von Mutterschaft und Familienformen gedreht. Weder begegnen wir hier zum Beispiel Leihmüttern, für die ihre Erfahrung leidvoller war, als sie es dem Machbarkeitswunsch von Familie entsprechend sein soll, noch Kindern von Müttern, die sich das Recht herausgenommen haben, welches Väter sich seit Menschengedenken herausnehmen: ihr Leben nach einer Trennung unabhängig weiterzuleben, als Wochenend- oder Ferien-Elternteil. Diese Perspektive wäre interessant gewesen, aber vielleicht auch zu viel für diesen einen Film. Denn der hat in erster Linie das Anliegen, die rigiden Vorstellungen von Mutterschaft und die damit verbundenen sehr unterschiedlichen Anforderungen an, bzw. Möglichkeiten für, Männer und Frauen infrage zu stellen. Er tut dies auf eine kraftvolle und sehr oft auch lustige Weise, indem er selbstbewusste „alternative“ Eltern zeigt und Frauen, die die Potenz ihres Körpers genussvoll und großzügig einsetzen; und indem er klarstellt: Was Kinder brauchen, ist Bindung und Versorgtwerden. Oder, eben, Liebe. Wer es ist, der die verlässlich gibt, ist sicher nicht die wichtigste Frage.

(M)Other

Deutschland 2018, 88 Minuten

Regie: Antonia Hungerland

DOK Leipzig 2018, Internationales Programm

Vorführungstermine, Katalogtext

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