„50 Grades of Shame“: She She Pop übt in Hellerau den Akt der Befreiung
Die Performance-Gruppe She She Pop wurde Anfang der neunziger Jahre in Gießen gegründet und ist seit 1998 in Berlin ansässig. Bekannt ist sie für ihre experimentellen Theaterformate, die im Kollektiv erarbeitet werden und mitunter autobiografische Erfahrungen der Performer*innen öffentlich verhandeln. Die 2016 in den Münchner Kammerspielen uraufgeführte Produktion 50 Grades of Shame nimmt sich Frank Wedekinds Drama Frühlings Erwachen, welches das Leiden Jugendlicher an repressiver Sexualmoral thematisiert, und 50 Shades of Grey von E.L. James, in welchem eine scheinbar enttabuisierte Sexualität beschrieben wird, zur Vorlage. Ausgehend von diesen zwei in vielerlei Hinsicht recht gegensätzlichen Texten lotet das Kollektiv mittels seiner Körper, Geschlechter und Erfahrungen die Zusammenhänge von Begehren und Scham aus.
„Was ist verboten?“
Eingangs werfen She She Pop die Frage nach Tabus auf und verweisen damit auf die Regeln, die gesellschaftlich akzeptable von geächteten sexuellen Aktivitäten trennen, wobei sich einige Regeln als mehr oder minder fragwürdig herausstellen: Neben dem Verbot, „über Sex mit dem eigenen Vater nachzudenken“, sei es etwa auch untersagt, „zu lange in einer bestimmten Position an den Düsen im Schwimmbad zu verharren“. Einer der Performer hält dann eine Art Ted-Talk, wie er seine Scham überwunden habe und illustriert dies anhand seines Polochs. Früher habe er dieses verschämt in der Umkleide um jeden Preis zu verstecken versucht und habe den Sportkameraden lieber sein Glied präsentiert als den Hintern, um dann darzulegen, dass er sich es heutzutage nun voller Stolz lecken lässt. Man erfährt, dass wohl die menschliche Scham vielmals einer erfüllenden Sexualität im Wege stehe und es gelte, diese zu überwinden.
„I wanna know what love is“ – Plädoyer für solidarische Körperlichkeit
Das Stück ist in Lektionen aufgeteilt und die verschiedenen Performer*innen wechseln sich am Lehrerpult ab und stellen sich ganz in den Bildungsauftrag der Sexualaufklärung. So hoffen sie, zu der durch Scham und mangelndes Wissen verhinderten Utopie einer freien Sexualität zu gelangen, wo ohne Wertung gevögelt und gewichst wird. She She Pop sprengen im Geiste dieser schwärmerischen Welt durch Videotechnik die Grenzen, indem sie Patchworkkörper erschaffen, Männliches mit Weiblichem verschmilzt und gar Titten zu Köpfen und Finger zu Pimmeln werden. Diese fantastischen Verrückungen wirken mal monströs, mal überraschend sexy und sind unterhaltsam anzuschauen. So wird nämlich jegliche konventionelle Körperlichkeit transzendiert. Ganz pragmatisch dazu die Antwort einer Performerin auf das Publikumslob, dass keine ‚Normkörper‘ verwendet worden seien: „Das ist nun mal das Zeugs, mit dem wir hier unterwegs sind“. Dieser liebe- und humorvolle Blick auf den eigenen Körper und die der Anderen ist die zentrale Stärke des Stücks.
Tanz dich frei – oder: Ich spüre nicht das Geringste
Jedoch schleicht sich im Verlauf der Performance eine Art präskriptive Forderung nach ‚Body Positivity‘ ein, die als Patentrezept gehandelt wird und im Tanzreigen der Körperteile endet, der aber niemals wirklich wild, ekstatisch oder gar kathartisch wirkt, sondern seltsam brav bleibt. Niemals begeben sich die Performer*innen an die Urspünge von Schuld, Scham und Perversion, diese dunklen Orte – und mit ihnen sie von der Nacht umgebene Sexualität – werden allesamt durch die Neonröhren eines Klassenzimmers tot gestrahlt. So ist es am Ende ein ausgestellt-künstlicher, performativer Akt der Befreiung von und für die Performer*innen. Die Befreiung der Zuschauer ist – zumindest an diesem Abend – aber nur jenseits der Theaterbühne zu finden.
50 Grades of Shame
Ein Bilderbogen nach Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“
Vom Performance-Kollektiv She She Pop
Von und mit: Gundars Abolinš, Sebastian Bark, Daniel Belasco Rogers, Knut Berger, Lilli Biedermann, Jean Chaize, Anna Drexler, Jonas Maria Droste, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Walter Hess, Christian Löber, Lisa Lucassen, Fee Aviv Marschall, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou, Florian Schäfer, Susanne Scholl, Berit Stumpf, Zelal Yesilyurt.
Video: Benjamin Krieg. Bühne: Sandra Fox. Kostüme: Lea Søvsø. Musik: Santiago Blaum. Künstlerische Mitarbeit: Ruschka Steininger. Dramaturgie: Tarun Kade. Sounddesign: Manuel Horstmann Licht: Michael Lentner. Technische Tourbetreuung: Florian Fischer, Sven Nichterlein. Video Assistenz: Philipp Hohenwarter. Übertitel: Anna Kasten (KITA). Produktion/PR: ehrliche arbeit – freies Kulturbüro. freie künstlerische Mitarbeit: Tina Ebert. Company Management: Elke Weber. Administration: Aminata Oelßner.
Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste, 25. Januar 2019
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