Start mit gezogener Handbremse

Gefälliger Eröffnungsfilm und Kinoperlen, die nicht im Wettbewerb laufen – die erste Hälfte der 69. Berlinale ließ viele Wünsche offen

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Mit Lone Scherfigs nichtssagender Ode an New York, „The Kindness of Strangers“, starteten am 7. Februar die 69. Internationalen Filmfestspiele von Berlin. (Foto: Berlinale 2019)

Man hatte sich so viel erwünscht, erhofft, herbei-imaginiert. Das letzte Jahr unter Dieter Kosslick, es würde sicherlich ein fulminanter Abschluss werden, und wenn nicht, dann doch zumindest endlich das Fahren ohne angezogene Handbremse, die Lust zum Risiko für neue Blickwinkel und Perspektiven, gerade im prestigeträchtigen Wettbewerb. Wann, wenn nicht jetzt könnte man entsprechend Fahrt aufnehmen und dem Flaggschiff einen neuen Anstrich geben? War die Farbe in der Vergangenheit doch arg abgeblättert. Doch gleich mit dem Eröffnungsfilm konnte man ahnen, dass dieses Jahr wohl auch anders verlaufen könnte. Ganz anders.

Denn mit einem selten nichtssagenden Eröffnungsfilm über ein belangloses Beziehungsgeflecht in New York unter dem Titel The Kindness of Strangers eröffnete die Dänin Lone Scherfig die 69. Berlinale. Scherfig wollte den Film auch als Ode an New York verstanden wissen, dem sozialen Miteinander und der unerwarteten positiven zwischenmenschlichen Möglichkeiten in dieser berstenden Weltstadt. Falsche Stadt, mag man intuitiv in dem Moment vielleicht schon gedacht haben, und sich weitergehend fragen, wie wohl ein Film über Berlin ausgesehen hätte. Vielleicht nicht so nett, freundlich und letztlich nichtssagend. Was einem Festival, das immer noch vom Ruf seiner politischen Kontroversität lebt, wohl auch besser gestanden hätte.

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Nicht preisverdächtig, aber sehenswert wegen seiner Atmosphäre: „A Ghost Town Anthology“ von Denis Coté. (Foto: Berlinale 2019)

Besorgt konnte man sich nach diesem Start ebenfalls fragen, was noch vom Wettbewerb zu erwarten sei. Bedauerlicherweise muss man bisher sagen: nicht viel. Wohlwollend, aber nicht unbedingt preiswürdig herauszuheben sind bisher die deutsche Produktion Systemsprenger, der Debütfilm von Nora Fingscheidt, und der Beitrag des kanadischen Berlinale-Routiniers Denis Coté, A Ghost Town Anthology. Während Fingscheidt es schafft, trotz stilistischer Überfrachtung und einer teils mangelnden inhaltlichen Stringenz darzulegen, wie schwierig und komplex der Umgang mit problembelasteten Kindern ist, und wie das „System“ der staatlichen Fürsorge hier trotz aller Bemühungen scheitern kann, ist Cotés Film hierzu geradezu ein ästhetischer Gegenentwurf. Reduziert in Bild (gefilmt auf 16 mm) und Dialog, erzählt er formal von kanadischen Orten, die in einer Art Landflucht zunehmend ausbluten. Dieses soziale Phänomen ist jedoch nicht der eigentliche Schwerpunkt des Wettbewerbsbeitrags, sondern der Umgang der Protagonisten mit Krisensituationen wie Selbstmord und dem Fremden in der gegebenen Situation. Dieses Fremde wird eingangs in Form einer muslimischen Psychologin verkörpert, die mitsamt Kopftuch aus dem großen Quebec anreist, um der Gemeinde hinsichtlich eines Todesfalls zu helfen. Alsbald sind es jedoch die zurückkehrenden Toten, die das Fremde darstellen. Niemand weiß, warum sie da sind. Und im Gegensatz zu den gängigen Klischees des Horrormetiers sind diese Geister greifbar, sogar fotografierbar. Sie, Tote aus allen Generationen des Ortes, stehen in der Landschaft, und schauen. Und die Bewohner schauen zurück, nicht wissend, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Es ist ein Film, der von seiner Atmosphäre lebt, die bedrohlich wirkt, drückend und immanent. Am Ende verlassen zwei der Protagonisten ihren Ort, sie halten die Situation nicht mehr aus. Und die Toten schauen ihnen hinterher.

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„La paranza dei bambini“ von Claudio Giovannesi lässt den Zuschauer weichgespült zurück. (Foto: Berlinale 2019)

Mit Spannung erwartete Literaturverfilmungen wie Fatih Akins „Der goldene Handschuh“ (nach dem gleichnamigen Roman von Heinz Strunk) und Claudio Giovannesis „La paranza die bambini“ (nach Roberto Savianos „Der Clan der Kinder“) lassen den Zuschauer hingegen seltsam unberührt zurück. Beide Produktionen schaffen es nicht, bleibende Gefühle zu erzeugen. Im Falle von Akins Verfilmung reicht es höchstens zu einem gewissen situativen Ekel, aber gesamtheitlich bleibt wenig anderes zurück. Und im Falle von Giovannesis Wettbewerbsbeitrag fragt man sich irgendwann ernsthaft, ob es wirklich so einfach sein kann, als Gruppe Teenager ein ganzes Viertel der Mafiahochburg Neapel unter seine Kontrolle zu bekommen. In der dargelegten Form stellt sich zunehmend eher die Frage, wann die Nanny respektive italienische Mamma nun endlich um die Ecke kommen wird, um den Kindern Einhalt zu gebieten. Ernstzunehmende Erwachsene, gar kriminelle, hochgefährliche, ja skrupellose Mafiosi, die dem Spuk mit Waffengewalt zu jeder Zeit ein Ende bereiten könnten, scheint es nicht zu geben. Man vermutet, dass das Savianos ursprüngliche Geschichte um eine jugendliche Gang vielleicht doch ein wenig rücksichts- und schonungsloser abgelaufen sein könnte. Und fragt sich, wer hinsichtlich der Verfilmung dann den Weichspüler eingeworfen hat.

Es bleibt also zu hoffen, dass der Wettbewerb in der zweiten Hälfte noch ein wenig Fahrt aufnehmen wird. Besorgniserregend in dieser Hinsicht ist, dass die im Vorfeld potenziell interessantesten Beiträge in diesem Jahr außer Konkurrenz laufen, ob Adam McKays Vice mit einem bemerkenswerten Christian Bale, André Téchinés L‘ adieu à la nuit mit Catherine Deneuve oder Agnès Vardas Dokumentarfilm über niemanden geringeren als sich selbst mit dem wunderbaren Titel Varda par Agnès. Auf andere Weise besorgniserregend ist, dass mittlerweile gleich zwei Produktionen im Wettbewerb bereits vor ihrer Präsentation in Frage gestellt bzw. aus dem Wettbewerb genommen werden. So soll Elisa y Marcela von Isabel Coixet auf Wunsch der deutschen Kinobetreiber vom Wettbewerb ausgeschlossen werden, da es sich um eine Netflix-Produktion handelt, die voraussichtlich nur in Spanien ihren Weg in die Kinos finden wird. Der chinesische Wettbewerbsbeitrag One second von Zhang Yimou hingegen wird bereits tatsächlich nicht mehr im Wettbewerb gezeigt. Offiziell aufgrund von technischen Problemen in der Postproduktion, vielfach vermutet wird jedoch eine Zensurmaßnahme durch den chinesischen Staat. Um sich die Tragweite dieses Vorfalls bewusst zu machen: Es ist das erste Mal in der 69-jährigen Geschichte der Berlinale, dass ein Wettbewerbsfilm nicht gezeigt wird.

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Hoffnungsschimmer: „Die Kinder der Toten“ von Kelly Copper und Pavol Liska ist eine wunderbare filmische Umsetzung von Elfriede Jelineks gleichnamigem Roman. (Fotos: Berlinale 2019)

Man kann an dieser Stelle nur hoffen, dass sich das Festival in der zweiten Hälfte neben der benannten Vorfälle und inhaltlichen Enttäuschungen seiner Qualitäten besinnt und dennoch bemerkenswerte Produktionen präsentieren wird, die dem Ruf als A-Festival gerecht werden. Jenseits des Wettbewerbs seien dem geneigten Zuschauer zwischenzeitlich zwei Filme ans Herz gelegt, die in der Sektion „Forum“ laufen.

Die Dokumentation African Mirror von Mischa Hedinger setzt sich kritisch mit dem Schweizer René Gardi auseinander, der ab den 1950er-Jahren durch seine Filme und Reiseliteratur maßgeblich das Bild Afrikas für eine ganze Generation prägen sollte. Fragt man sich nach der ersten Hälfte eventuell noch, warum man sich dieses kolonialistische Weltbild auf Spielfilmlänge antun soll, gibt es genau in diesem Moment eine überraschende Information, die dem Bild Gardis eine fundamentale Wendung gibt. Sehenswert, und dies hoffentlich auch jenseits des Festivals im Programmkino des Vertrauens. In dieser Hinsicht unwahrscheinlicher ist die Möglichkeit der Sichtung der Romanverfilmung von Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“. Dem Regieduo Kelly Copper und Pavol Liska ist eine wunderbare Umsetzung der Literaturvorlage gelungen, gefilmt auf 8 mm, stumm mit entsprechenden Zwischentiteln, mit Laiendarstellern und einer Treue zur ihrer stilistischen B-Movie-Prämisse, die ihresgleichen sucht. So absurd das Gesehene sein mag, so sehr spürt man die Intention von Jelineks Vorlage durch die Bilder. Historische Rückwärtsgewandtheit, Xenophobie und jelineksche Schonungslosigkeit werden unmissverständlich und zugleich mit einem filmischen Witz vermittelt, der den Zuschauer nach kurzer Zeit in ein Experiment tauchen lässt, dass ihn, sofern er sich darauf einlässt, erst nach zwei Stunden wieder freigibt. Experiment gelungen, und dem neugierigen Zuschauer absolut ans Herz gelegt.

69. Internationale Filmfestspiele Berlin

7. bis 17. Februar 2019

Rückblick im Leipzig-Almanach auf die zweite Festivalhälfte


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