Die 69. Berlinale ist beendet – und mit ihr nun bald die 18-jährige Ära Kosslick als Festivalleiter. Auch viele Filme hätten kürzer sein dürfen
Die erste Hälfte der diesjährigen Berlinale zog sich. Dies war nicht nur dem anfangs teilweise arg inspirationslosen Wettbewerb geschuldet (hier mehr), der mit Systemsprenger und Ghost Town Anthology bis zur Festivalmitte nur zwei kleinere, gelungene Produktionen präsentieren konnte. Bereits relativ früh zeichnete sich zudem ab, dass viele Beiträge, egal welcher Sektion, in ihrer Spieldauer die klassischen 90 bis 100 Minuten sprengten. Bedauerlicherweise ging damit oftmals einher, dass die Filme sich auch gefühlt länger zogen, als ihnen guttat. Es gab gerade in der ersten Festivalhälfte in vielen Filmen inhaltliche Leerstellen, die eine längere Spieldauer schlicht nicht rechtfertigten.
Dass es auch anders geht, bewies eindrucksvoll der letzte Wettbewerbsbeitrag des diesjährigen Festivals, die chinesische Produktion So long, my son. Während der Spieldauer von mehr als drei Stunden gab es kaum einen Moment, in dem man nicht dem Geschehen auf der Leinwand folgen wollte. Wenngleich das Familiendrama, das sich um den Verlust eines Sohnes und die damit verbundenen familiären und sozialen Konsequenzen dreht und das drei Jahrzehnte der jüngeren chinesischen Geschichte abdeckt, keine großen inszenatorischen Sprünge bot. Regisseur Wang Xiashuai gelang es mit einer teils virtuosen Verflechtung verschiedener Zeitebenen, selbst eine Dauer von mehr als 180 Minuten wie im Flug vergehen zu lassen.
Eine ähnliche Kunst bewies auch Charles Ferguson mit seinem Beitrag Watergate: Or how we learned to stop an out of control president. Die Dokumentation des oscarprämierten Regisseurs erläutert über vier (!) Stunden das Amtsenthebungsverfahren von Richard Nixon im Rahmen der berühmten Watergate-Affäre. Auch Ferguson gelang es, einen Großteil der enormen Dauer spannend zu gestalten. Zahlreiche persönlich involvierte Personen stehen in der Produktion Rede und Antwort, und die Nutzung der von Nixon selbst angefertigten heimlichen Tonbandaufnahmen aus dem Oval Office, die teilweise als Reenactment nachgestellt wurden, geben der Dokumentation einen erschreckenden Blick auf das Verhalten des US-Präsidenten. Man fühlt sich bedrückend an den aktuellen Amtsinhaber erinnert, und noch bedrückender ist vielleicht der in Fergusons Film en détail vorgeführte Sachverhalt, dass es schwierig ist, eine Person in dieser Position stoppen zu können.
Glücklicherweise fingen sich sowohl Wettbewerb als auch das restliche Festival in der zweiten Hälfte zunehmend, und so konnten hier beispielsweise die Filme Synonymes und Ich war zuhause, aber im Kampf um die Preise überzeugen. Ersterer gewann letztlich den Goldenen Bären als bester Film, letzterer wurde mit dem Silbernen Bären für die beste Regieleistung belohnt. Bei beiden Produktionen handelt es sich um Filme, die ihre Geschichten nicht geradlinig erzählen. Sie schaffen vielmehr Gefühlsräume, hinter denen teilweise noch eine Geschichte durchscheint, die aber von einer klassischen Filmsprache Abstand nehmen. Gerade der Beitrag von Angela Schanelec, Ich war zu Hause, aber, arbeitet in extremer Form mit einzelnen Bild- und Gefühlsräumen, was ihren Film in unzählige voneinander gefühlt stark unabhängige szenische Tableaus zerfallen lässt, und damit stark mit den alltäglichen Sehgewohnheiten des Mediums Films bricht. Zu sehr wohl, als dass die Jury ihn mit dem Goldenen Bären bedacht hätte, aber der Silberne Bär für die beste Regieleistung ist sicherlich diesem Mut zu alternativen Inszenierungswegen geschuldet.
Mit der 69. Berlinale endet im Mai nach 18 Jahren ebenso die Ära Dieter Kosslick als Direktor der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Auch hier wäre ein bisschen weniger Überlänge wünschenswert gewesen. Zwar ist das Festival formal ein Besuchermagnet wie nie zuvor, und auch der brancheninterne European Film Market, den Kosslick gepflegt hat, ist eine Erfolgsgeschichte. Und die Leute jedoch strömen in diesen grauen Berliner Februartagen auch deswegen ins Kino, weil die Marke Berlinale für sich genommen oftmals bereits Grund genug zu sein scheint, um sich dafür in lange Schlangen zu stellen, um Karten zu ergattern. Umso erfreulicher wäre es gewesen, den Zuschauern für ihre teils bedingungslose Zuneigung mehr herausragende, eigensinnige oder kontroverse Produktionen und eine klarere inhaltliche Ausrichtung zu bieten, als es in den letzten Jahren der Fall gewesen ist. Gerade diesjährigen Sonderreihen wie die Sektion Panorama 40, die dem 40-jährigen Bestehen der Sektion Tribut zollte, oder auch die Sektion Special hatten einige Produktionen im Angebot, die darauf verweisen, wie schillernd und besonders die Filme hier in der Vergangenheit gewesen sind und teilweise immer noch sein können.
Es bleibt zu hoffen, dass die neue Festivalleitung, nun bestehend aus zwei Personen, in der Lage sein wird, dem Festival die inhaltliche Besonderheit zurückzugeben, mit der die Berlinale sich ihren besonderen Ruf verdient hat. Es lohnt sich, mit Zuversicht in diese Zukunft zu schauen: Carlo Chatrian, der künftige künstlerische Leiter der Berlinale, hat bereits beim Filmfestival Locarno (mit dem Goldenen Leoparden als Hauptauszeichnung) hervorragende kuratorische Arbeit geleistet. Man darf also gespannt sein, was der Bär vom Leoparden lernen kann. Und Mariette Rissenbeek als neue Geschäftsführerin hat verlautbaren lassen, dass sie es als eine ihre Hauptaufgaben sehe, Chatrian so viel Freiräume wie möglich eröffnen zu können. Hier scheint bereits ein grundlegendes Verständnis für eine bestehende Problematik gegeben zu sein, und man kann allein aus dieser Position heraus schon jetzt gespannt sein auf die nächsten Jahre.
Bei aller Kritik muss man Dieter Kosslick aber auch noch einmal für seine Arbeit danken. Er hat 18 Jahre das gestemmt, was sich nun auf zwei Köpfe verteilen wird, daneben den wirtschaftlichen Flügel des Festivals ausgebaut, und den Filmfestspielen für lange Zeit mitsamt obligatorischem Hut und Schal eine einzigartige Erscheinung gegeben, die die schillernde Aura der Berlinale in den Wowereit-Jahren noch verstärkt hat. Und so muss man sich den Fans anschließen, die am letzten Abend teilweise ebenfalls mit Hut und Schal am roten Teppich standen und Schilder in die Luft hielten mit der Aufschrift: „Danke, Dieter.“
69. Internationale Filmfestspiele Berlin
7. bis 17. Februar 2019
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