Von Vergeltung bis Verantwortung

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs stand Deutschland vor einem Bürgerkrieg. In dieser Situation hatten es Demagogen leicht, die aufgebrachte Menge für sich zu gewinnen. Der Versailler Vertrag sollte ein für alle Mal Frieden schaffen, entfesselte aber einen neuen Krieg. Andreas Platthaus erklärt, warum.

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Versailles beginnt lange vor Versailles, hat der französische Romancier Érik Orsenna zu Recht geschrieben. Und es ist „Wirklichkeit gewordenes Verlangen“, schreibt Edmund de Waal, ein britischer Schriftsteller. Gemeint ist damit der Ort, den Ludwig XIV. im 17. Jahrhundert als eine Schlossanlage errichten ließ, die alles übertraf, was europäische Pracht- und Machtentfaltung zuvor gekannt hatte. Der Spiegelsaal, der 1684 vollendet wurde, wird bezeichnenderweise von zwei Sälen flankiert, der „Salon de la Guerre“ und der „Salon de la Paix“, als hätte Ludwig XIV. den Kampf um Krieg und Frieden schon vorausgeahnt – so beobachtet es Platthaus in seinem neuen Buch über den Versailler Vertrag.

Auch wenn in Versailles eigentlich nie über den Versailler Vertrag verhandelt wurde, sondern in Paris, so musste auf Wunsch Frankreichs als Gastgeber das Ergebnis des Vertrags im weltberühmten Schloss dort unterzeichnet werden. Insofern war die Wahl des Ortes Versailles für die Franzosen auch eine Art symbolische Wiedergutmachung einer 48 Jahre zuvor angetanen Schmach. Denn am 18. Januar 1871 war genau dort der preußische König Wilhelm zum deutschen Kaiser erklärt und damit auch das Deutsche Reich proklamiert worden.

Aber auch das Deutsche Reich kennt die empfindlichen Stellen Frankreichs: denn als das Deutsche Reich der militärisch längst besiegten alten Großmacht Frankreich, die inzwischen zur Republik geworden war, einen Friedensschluss anbietet, wird dieser wiederum in Versailles unterzeichnet. In diesem Präliminarfrieden verpflichtete sich Frankreich zur Abtretung von Elsass-Lothringen. Das prächtige Schloss wird nicht nur zum Hauptquartier der Deutschen, sondern später auch zum Lazarett für verwundete preußische Soldaten. Für die Franzosen stand mit diesem Affront fest, dass deshalb auch nur dort eine Aussöhnung mit Deutschland möglich sein würde.

Andreas Platthaus gelingt es auf eindrückliche Weise, die Vertragshandlungen als symbolische Akte gegenseitiger Demütigung zu decodieren. Etwa, wenn 50 Jahre später fünf so genannten Gueules cassées, also französische Kriegsverstümmelte, nur deshalb zur Unterzeichnung des Pariser Friedensvertrages nach Versailles geladen werden, um einerseits die Macht der Alliierten zu demonstrieren und andererseits den Gegner zu kränken. Oder wenn die Deutschen gar nicht zur Aushandlung des Friedensvertrages an den Tisch geladen werden, sondern aufgrund der zugeschriebenen Alleinschuld die Bedingungen eines Friedens diktiert werden. So wurden die Bedingungen symbolisch durch die physischen Verluste der Franzosen legitimiert. Jedes zerstörte Gesicht sollte an die militärische und moralische Niederlage der Deutschen gemahnen. – 100 Jahre ist das her.

Der Krieg nach dem Krieg

Der 11. November 1918 gilt als Schlusstag des Ersten Weltkrieges. Bis heute ist dieser Tag Nationalfeiertag in Frankreich und Belgien. In den Ländern des Commonwealth begeht man an diesem Datum den Remembrance Day, in den Vereinigten Staaten den Veterans Day. In Deutschland hingegen gedenkt man dieses Tages nicht. Woran liegt das? Platthaus’ These ist, dass mit dem Versailler Vertrag, der ein Friedensabkommen sein sollte, die Bedingungen für einen neuen Krieg gelegt wurden.

Platthaus, der Rhetorik, Philosophie und Geschichte studiert hat und seit 1997 Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist, erzählt nicht nur, wie es zum Friedensvertrag kommt, sondern räumt in seinem neuen Buch zugleich mit der historischen Forschungsliteratur auf: Denn weder war mit dem Waffenstillstand am 11. November 1918, um 12 Uhr, der Erste Weltkrieg zu Ende noch waren die Feinseligkeiten der Beteiligten eingestellt. Im Gegenteil, so seine These, zwischen den Siegern brach von Januar bis zum Mai 1919 ein derart heftiger Streit um die Friedensbedingungen aus, dass man von einem Krieg nach dem Krieg sprechen kann.

Das über 400 Seiten starke Buch schaufelt eine Perspektive frei, die den Blick hinter die Kulissen der politischen Geschehnisse freigibt. Gegenstand des Buches sind dabei nur jene Monate des Jahres 1918 bis Mitte 1919, in denen zwar offiziell noch Krieg herrschte, inoffiziell aber keine aktiven Kampfhandlungen mehr stattfanden. Gekämpft und gerungen wurde in diesen siebeneinhalb Monaten stattdessen mit Worten, diplomatisch wie innenpolitisch, wie der Autor anschaulich zeigt.

Deutschland hinter den Kulissen

Wie ein Krimi lesen sich nun die verschiedenen Kapitel, die zum Friedensvertrag führten. In diesem Krimi bekommen historische Größen eine Rolle, darunter Viktor Klemperer und Albert Einstein, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, der damalige amerikanische Präsident Woodrow Wilson oder der französische Ministerpräsident Clemenceau. Besonders ironisch ist dies im Fall von Offizier Erich Ludendorff zu, der an der Seite von Paul von Hindenburg hinter den Kulissen bereits während des Krieges gegen den Kaiser und das Reich sowohl eine Kapitulation einräumt als auch einen Staatsumbau avisiert. Sein Plan sah vor, als Initiator eines Waffenstillstandsgesuches eine neue parlamentarische Reichsregierung zu instanziieren, die sowohl den Kaiser zu einer Symbolfigur degradierte als auch das Ansehen des Reiches – und damit des Militärs – ohne Gesichtsverlust aus der Situation hervorgehen lassen sollte.

Mit zahlreichen Foto- und Zeitungsdokumenten schildert Platthaus den Weg der kurzen Regierung Ebert, plausibilisiert die so genannte Dolchstoßlegende als hausgemachten Verrat und erzählt en passant von den verwirrenden politischen Grabenkämpfen der Arbeiterräte und Parteien, der Revolution und den politischen Attentaten, die zur Gründung der Münchner Räterepublik und der Weimarer Republik führen. Packend wird der historische Moment geschildert, in dem für Deutschland und Europa politisch alles möglich schien und gleichzeitig die unheilvollen Weichen für die Zukunft gestellt wurden. So war am 28. Juni 1919 zwar formell beendet, was fünf Jahre zuvor mit dem Attentat von Sarajevo begonnen hatte. Faktisch aber herrschte noch 70 weitere Jahre Krieg. Wie und warum die gute Absicht so tragische Folgen hatte, ist die Grundfrage des Buches, der Platthaus nachgeht.

Die Rolle der USA

Als die USA im April 1917 – relativ spät – in den Krieg eintraten, versprach deren Präsident, Woodrow Wilson, dass dies der letzte Krieg sein werde, „ein Krieg, der alle Kriege beendet“. Die Vereinigten Staaten wussten, dass sie mittlerweile die mächtigste Macht der Welt waren. Ihre Unterstützung der Alliierten entschied über den Ausgang des Krieges, denn nicht nur Deutschland war militärisch am Ende, sondern auch die Mächte der Entente waren ausgelaugt. Durch Waffenlieferungen waren sie inzwischen bei den USA hochverschuldet und damit von ihnen über den Krieg hinaus abhängig.

Wilson wollte mit seinem 14-Punkte-Programm Bedingungen schaffen, die jeden weiteren Krieg verhindern sollten und einen Völkerbund zum Ziel hatten. Damit wurde Wilson zum Spiritus Rector des Vertragstextes von Versailles. Die Ironie der Geschichte liegt jedoch darin, dass der amerikanische Senat am 19. November 1919 gegen die Ratifikation des Versailler Vertrags stimmte. Damit wurde Wilsons Vertrags- und Lebenswerk des Völkerbundes zu Fall gebracht und der Vertrag zum Scheitern verurteilt, denn ohne die USA und den Völkerbund konnte der Frieden in Europa nicht aufrechterhalten werden.

Schuld und Sühne

Platthaus schildert nun, wie die anfängliche Bereitschaft der jungen Weimarer Republik nach dem Waffenstillstand und angesichts der Revolution einen Ausgleich mit den bisherigen Feindstaaten auf der Basis gemeinsamer gesellschaftspolitischer Interessen suchte. Doch das hatte sich bereits erledigt, als der damalige bayrische Ministerpräsident, Kurt Eisner, der für diesen Ansatz stand, ermordet wurde. Er hatte die Schuld des Deutschen Reiches am Krieg eingestanden und daraus die Verantwortung für eine konstruktive Gestaltung der Nachkriegsordnung eingestanden.

Viele Deutsche jedoch wurden lange Zeit ideologisch mit der Illusion des so genannten Siegfriedens manipuliert. Für sie waren die Friedensvertragsbedingungen inakzeptabel und die Zuschreibung der Alleinschuld am Ersten Weltkrieg untergrub nun noch die Aussicht auf einen ehrenvollen Frieden. Mehr noch als die Reparationszahlungen und die Gebietsabtretungen, die gefordert wurden, litt das deutsche Selbstwertgefühl unter der Schmach des angezettelten und verlorenen Krieges. Sie sahen sich selbst nicht als Verlierer, geschweige denn als Schurken, sondern als Opfer einer weltweiten Verschwörung.

Der Versailler Vertrag wurde zwar mit 250 Seiten der umfangreichste Friedensvertrag der Geschichte. Der Friedensvertrag sollte als Muster für alle noch anstehenden Friedensschlüsse mit den deutschen Kriegsverbündeten dienen, also mit Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei. Doch die 33 Vertragspartner unter einen Hut zu bringen, war schier aussichtslos. Das gelang schon bei den Hauptmächten nicht: Die Briten hatten vor allem an den wirtschaftlichen Bestimmungen des Textes Interesse, während die Franzosen sich darauf konzentrierten, Deutschland dauerhaft politisch und militärisch zu schwächen. Die USA hatten sich verabschiedet; Russland und Deutschland waren ohnehin keine Vertragspartner.

Auch in den Folgejahren wurde kein Frieden gestiftet: Amerikaner und Briten beklagten sich schon bald eher über die Scharfmacherei der Franzosen während der Verhandlungszeit als über die für kriegsverantwortlich erklärten Deutschen. Spätestens die Ruhrbesetzung von 1923 setzte Frankreich in den Augen seiner Verbündeten dabei moralisch genauso ins Unrecht wie Deutschland, auch wenn es mit seiner Aktion die Erfüllung der Vertragsbestimmungen durchsetzen wollte.

Verspielter Weltfrieden

Hatte die Uneinigkeit der Entente im Frühjahr 1919 noch untereinander zu Kompromissen geführt, die ein gemeinsames Ziel vereinigte, so war allen Beteiligten bald klar, dass sie die Konsequenzen des Friedensschlusses nicht würden tragen können. Diese Inkonsequenz hatte auch Folgen für die politische Situation in Deutschland.

Sowohl der rechten Opposition als auch dem seit Friedrich Eberts Tod im Jahr 1925 amtierenden Reichspräsidenten Paul von Hindenburg galten die Demokratie, die sie doch erst auf ihre Positionen gebracht hatte, als alleinverantwortlich für den Friedensschluss von 1919 und damit als diskreditiert. Sie taugte ihnen nur dazu, den Weg an die Macht zu ermöglichen. Das Mitwirken an der eigenen Abschaffung bewies diesen Antidemokraten die Schwäche des Systems und der Republik, womit sich mit Platthaus die brandaktuelle Frage stellt: Wie sich mit demokratischen Strukturen Diktaturen und Krieg verhindern lassen können.

Fortan setzten sich in Deutschland auf der Rechten jene Protagonisten durch, die im Versailler „Schandfrieden“ auch nach zehn Jahren noch die Ursache aller gegenwärtigen Übel identifizierten und durch die einsetzende Weltwirtschaftskrise immer mehr Wähler für ihre Ziele gewinnen konnten. Daher sind der Durchbruch der NSDAP und die unparlamentarische Phase der Präsidialkabinette in der Weimarer Republik auch mit dem inhaltlichen Scheitern des Friedensvertrages verbunden.

Versailler und die Folgen

Mit Platthaus lässt sich nun fragen, ob der Versailler Vertrag – statt in die Diktatur und in die Katastrophe zu führen – auch die Rettung Europas hätte bedeuten können? Der Autor verneint dies einerseits mit der Begründung, dass der Vertrag zu unkonkret gewesen sei. So seien weder konkrete Reparationskosten noch konkrete Sanktionen genannt worden. Der Versailler Vertrag war andererseits zu radikal, um mit seiner Kriegsschuldthese die Kriegsgegner zu versöhnen.

Der Versailler Vertrag hatte nicht dafür gesorgt, dass das als europäisches Unglück identifizierte Reich dauerhaft kleingehalten werden konnte. Seit spätestens 1925 existierte kein ausreichender gemeinsamer Wille mehr, Deutschlands Rückkehr zur Weltmachtpolitik mit den Mitteln der getroffenen Friedensvereinbarungen einzuhegen oder gar zu verhindern: Frankreich setzte lieber auf sich selbst, Großbritannien gefiel sich in bewährter „splendid isolation“ gegenüber der Lage auf dem Kontinent, Amerika hatte sich schon kurz nach Versailles aus dem Spiel zurückgezogen. Deswegen zerfiel Europa wieder in Einzelinteressen, die umso schwieriger auszugleichen waren, als die ideologischen Gräben sich vertieften. Kommunismus und Faschismus boten daher attraktive Gegenentwürfe zur schwachen Demokratie.

18/19. Der Krieg nach dem Krieg.
Deutschland zwischen Revolution und Versailles

Von Andreas Platthaus

Rowohlt

Hamburg 2018

448 Seiten, 26 Euro


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