Das soll ich sein?

Gastspiel in der Baumwollspinnerei: Mit ihrem interaktiven Stück „Total Therapy“ will die Performance-Gruppe Interrobang die zunehmende Therapeutisierung der Gesellschaft hinterfragen. Ein Selbsterfahrungsbericht

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„Total Therapy“: Und immer wieder Feedback geben und erhalten. (Fotos: Renata Chueire)

An Wochenenden besuche ich gerne Konzerte, Lesungen oder Theatervorstellungen. Sie sollen meinem Geist Impulse geben – jenseits meiner Arbeit als werdende Psychothearapeutin. Diesmal entscheide ich mich für Theater jenseits des Gewohnten.

In Vorbereitung auf das Stück „Total Therapy”, das in der Residenz des Schauspiels Leipzig in der Baumwollspinnerei aufgeführt wird, lese ich noch einmal die Beschreibung der Veranstaltung. Was war es noch mal, das mein Interesse an der Veranstaltung weckte? Eigentlich alles.

In ihrem Namen bezieht sich die Performance-Gruppe Interrobang aus Berlin, die das Stück nach Leipzig bringt, nach eigener Darstellung auf die „Kombination der Funktionen des Frage- und des Ausrufezeichens“. Sätze, die mit einem solchen Fragerufzeichen, einem Interrobang enden, bringen Aufregung oder Zweifel zum Ausdruck, stellen eine rhetorische Frage in den Raum.

Der Abend soll eine „performative Gratwanderung zwischen Therapie und Theater” werden, in der es um die „zunehmende Therapeutisierung der Gesellschaft” geht. So verspricht es die Gruppe in ihrer Ankündigung. Anlass für das Projekt war die Betrachtung (oftmals vermeintlicher) psychischer Probleme auf einer ausschließlich individuellen Ebene mit Ausblendung des gesellschaftlichen Kontextes. In „Total Therapy” sollen „Wechselwirkungen zwischen Privatem und Politischem” erfahrbar werden. Die Teilnehmenden, aufgefasst als „Mikrogesellschaft”, sollen sich im Rahmen eines Spieleparcours permanent gegenseitig Feedback geben und dadurch „ihre Persönlichkeiten erforschen” sowie „persönlichkeitsverändernde Maßnahmen riskieren”. Unvorhersagbarer Verlauf und Ausgang des Abends sollen aus der Dynamik der Teilnehmenden entstehen. Nun wird mir etwas bange. Was kommt da auf mich zu?

Mikrogesellschaft im Theaterraum

Wir betreten den Saal und werden von den Schauspieler*innen in drei große Gruppen eingeteilt. Eine Person begrüßt uns mit der Ansage, uns einen Platz im Kreis zu suchen, an dem wir uns wohl fühlen. Bis sich alle eingefunden haben, tönt vielsagende Musik im Hintergrund und die Stimmung (oder zumindest meine) ist aufgeregt-erwartungsvoll, niemand weiß so richtig, was kommen wird.

Dann befinden wir uns auch schon (ziemlich plötzlich) mittendrin – im Geben und Erhalten von Feedback mittels kleiner (verdeckter) Zettelchen mit vorgefertigten Beschreibungen und Bewertungen von gegenwärtigen Situationen. Anhand der erhaltenen Rückmeldungen, welche wir bis zum Ende sammeln sollen, werden uns im Laufe des Abends verschiedene Eigenschaften zugeteilt, aus denen am Ende eine Art „Persönlichkeitsprofil” entstehen soll. Dieses ist keineswegs starr, es ist möglich, begehrte Eigenschaften zu erwerben oder eben auch unerwünschte abzugeben.

Die Bewertungen lösen in mir einige Ambivalenzen aus. Die vorgefertigten Rückmeldungen, teils positive, teils unverblümt direkt formulierte, passen oftmals nicht ganz zu dem ersten Eindruck, den ich mir von den anderen mache, ich scheue mich davor, Unbekannten irgendeine unverhohlene Bewertung auszuteilen. Warum eigentlich? Sind all die Zuschreibungen nicht Teil des Spiels, die es nach Belieben anzunehmen oder abzulehnen in unser aller Macht (und Verantwortung) liegt? Was kümmert mich überhaupt das unzutreffende Bild, das sich manch eine*r über mich machen könnte? Kommen und gehen wir nicht alle in und aus diesem Saal als einander Fremde? Ist es denn gleichzeitig nicht auch in der „wahren” Welt so, dass wir andere anhand unseres ersten Eindruckes be- oder sogar verurteilen?

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Einige der erhaltenen Rückmeldungen lassen mich schmunzeln, einige kann ich gut annehmen, ja, nachvollziehen, einige schmeicheln mir sogar. Aber ich würde schon gerne wissen, wer mir wohl in der Anfangsrunde, in der wir uns ja noch nicht einmal unterhalten haben, unterstellt hat, Wasser zu predigen und Wein zu trinken? Regelkonform zu sein? Hat es wirklich was mit meiner Ausstrahlung zu tun oder wusste die Person diese Karte in der kurzen, zur Verfügung stehenden Zeit plötzlich nicht besser unterzubringen? Meine Eitelkeit (Verbirgt sich hier womöglich eine in mir schlummernde, bisher nur selten zu Tage getretene Eigenschaft?) lässt einige Fragen in mir entstehen. Die Zeit vergeht schnell und unbemerkt, während wir in verschiedenen Runden verschiedene Spiele spielen und Aufgaben lösen, immer mit anschließender Feedbackrunde.

(Un)gewisser Verlauf

Was im Laufe des Abends geschieht, welches Selbstbild anhand der Rückmeldungen jede teilnehmende Person am Ende mitnehmen kann, ist zu Beginn (wie versprochen) ungewiss und wäre in einer anderen Gruppenzusammensetzung vermutlich ganz anders. Das macht den Abend auch so spannend. Was zeige ich von mir je nachdem, wer neben mir sitzt? Traue ich mich, mich auch mal so zu verhalten, wie ich mich sonst nie verhalten würde? Die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit sind kaum zu bestimmen. Aber was ist schon „die Wirklichkeit”? Gibt es denn die Wahrheit unserer Persönlichkeit? Sind wir nicht alle auch Schauspieler*innen? Schlummern nicht in uns allen doch so vielerlei Möglichkeiten des Handelns und Erlebens?

Der Abend ist zweifelsohne bereichernd. Veranstaltungen, in denen das Publikum zur (Inter-)Aktion bewegt wird, regen auf eine völlig andere Art und Weise an, als es das reine Aufnehmen von Inhalten tun könnte. Der Abend bestätigt mich in meiner Vorstellung, was andere auf den ersten Blick von mir wahrnehmen. Er lässt mich in mich gehen, wenn ich die anderen voreilig in bestimmte Schubladen packen will. Die vorgefertigten Rückmeldezettel wirken diesen Schubladen leider nicht entgegen, sondern untermauern diese eher. Gleichzeitig wird durch die Aufgaben auch deutlich, dass „Persönlichkeit” nicht als etwas Unveränderbares aufgefasst werden sollte, sondern als ein dynamisches Geschehen, das durch Interaktionen und durch eigene Entscheidungen (bestimmte Eigenschaften abzulegen oder zu erwerben) geprägt wird.

Was ich vermisse, ist das Hinausgehen über das Individuelle, die in der Beschreibung geschilderte Erkundung, „wie der Imperativ zur therapeutischen Selbstoptimierung mit veränderten spätkapitalistischen Produktions- und Lebensweisen zusammenhängt” beziehungsweise wie „das Therapeutische selbst als eine politische Machtstruktur” erscheint. Allerdings bin ich erleichtert, dass der Abend nicht in einer verkürzten Kapitalismuskritik mündet. Der Fokus bleibt auf den (vorgefertigten) Rückmeldungen und nicht auf der Reflexion dessen, warum diese oder jene Gefühle durch diese ausgelöst werden können. Oder warum wir oft zu jedem Preis bestimmten (gesellschaftlich anerkannten und geprägten) Bildern entsprechen wollen. Eine solche Reflexion würde sich dann eher dem Therapeutischen annähern. Ein solcher Pfad der kritischen Hinterfragung beziehungsweise Reflexion des Therapeutischen könnte für Interrobang ein Folgeprojekt werden.

Bleibt die introspektive Frage: Was sagt es wohl über meine Person aus, wenn ich (mit der Begründung, von meiner Arbeit abweichende Impressionen aufnehmen zu wollen) nach einer herausfordernden Arbeitswoche in einer Psychiatrie in meiner sogenannten Freizeit an solch einer Veranstaltung teilnehme? Und an dieser sogar Gefallen finde? Wollte ich tatsächlich eine Antwort auf die mich beschäftigenden kritischen Fragen über den Zusammenhang von Therapeutischem und Politischem finden oder bin ich selbst ungewollt unbewusst dem kritisierten Selbstoptimierungswahn anheimgefallen? Was würde Sigmund Freud wohl dazu sagen?

Total Therapy

Gastspiel der Performance-Gruppe Interrobang aus Berlin in Koproduktion mit Sophiensaele Berlin, Schauspiel Leipzig und WUK Performing Arts Wien

Von und mit: Bettina Grahs, Lisa Großmann, Kaja Jakstat, Elisabeth Lindig, Till Müller-Klug, Christina Reuter, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg

12. April 2019, Schauspiel Leipzig, Residenz in der Baumwollspinnerei

Weitere Aufführungstermine in Leipzig
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