Vorsicht bei der Gruppenwahl

Ari Aster bringt uns mit seinem neuen Film „Midsommar“ nach seinem tiefgehenden Debüt „Hereditary“ erneut von der schönen, neuen, modernen in eine hässliche, alte, okkulte Welt

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Diese freundlichen Gesichter werden doch keiner Fliege etwas zuleide tun. Oder doch? (Foto: Ascot Elite Entertainment Group)

Es geht um unvorstellbares Leid, das Überleben in Ausnahmesituationen und am Ende ums Überleben der Individualität in einem Kult, in dem eine solche nicht vorgesehen ist. Als Zuschauer darf man sich nicht eine Sekunde sicher fühlen. Die außerordentlich schockierenden Inhalte, Bilder und Geräusche lauern hinter jeder Ecke, und auf keine Illusion ist mehr Verlass. Zwei Welten krachen ungebremst aufeinander.

Im Kern der Kollision steht eine verlorene Seele namens Dani (Florence Pugh, Lady Macbeth), der in der modernen Welt alles Stück für Stück abhanden kommt. Ihre Realität inkludiert. Ihre Beziehung zu Christian (Jack Reynor, Die Macht des Bösen) leidet immens unter ihrem Schicksal. Christian fühlt sich verantwortlich für ihr Wohlbefinden und versucht für die gebeutelte Dani da zu sein. Sein Freundeskreis sieht die Beziehung kritisch, sein Freund Josh (Will Poulter, Black Mirror – Bandersnatch) möchte von der Freundin schon gar nichts mehr hören. Lautstark beschwert er sich über ihr Verhalten und den Raum, den sie in der Beziehung einnimmt.

Auf einer Party erfährt Dani, dass die Freunde einen Trip nach Norwegen planen. Der sensible, charismatische und mitfühlende Pelle (Vilhelm Blomgren Gösta) aus der Clique wurde in einer naturnahen Kommune in Norwegen geboren. In dieser Kommune steht ein großes, traditionelles Midsommar-Fest bevor, zu dem er die Freunde alle herzlich einlädt. Für Mark (William Jackson Harper, Paterson) ist das eine tolle Gelegenheit. Er möchte über solche einzigartigen Kommunen, das Leben dort und die Rituale eine Doktorarbeit schreiben.

Christian lädt Dani aus Pflichtbewusstsein und wohl auch wegen Schuldgefühlen ein, mitzukommen. Er versichert seiner Clique, dass sie niemals wirklich mitkommen wird. Pelle ändert das, er wendet sich Dani intensiv zu, spricht ihr sein tiefes Mitleid aus, und dass ihr die Festivitäten der Kommune sicher gut tun würden. Die vollständige Gruppe fliegt also nach Norwegen. Hier erwarten sie wundersame Rituale, bewusstseinserweiternde Substanzen und verzauberte Menschen in einer verzauberten Umgebung, die in einer seltenen Harmonie mit ihrer Umgebung leben.

Ohne große Vorsicht lässt sich die Clique auf das nun Folgende ein. Die Rituale, die anfangs noch spielerisch und offen wirken, werden zusehends dunkler und bedrohlicher. Seltsamerweise fühlen sich die einzelnen Charaktere in Sicherheit. Abgelenkt vom Konkurrenzkampf, vom Ehrgeiz, der faszinierenden Gemeinschaft, den bewusstseinsverändernden Mittelchen sowie der verführerischen Mitglieder werden allesamt in einer Illusion gefangengehalten. Keiner bis auf sehr wenige Ausnahmen scheinen eine reale Gefahr für möglich zu halten.

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Dani (Florence Pugh, links) und ihre Freunde sind zunächst fasziniert von der kultischen Gemeinschaft (Foto: Ascot Elite Entertainment Group).

Weitere effiziente Methoden kultähnlicher Gruppen, Religionen etc. finden sich im Film wieder. Die Besucher werden so gut wie möglich isoliert, das Trauma einer Person wird genutzt, um sie tief zu berühren und die Gruppe als Lösung anzubieten, und natürlich wird auch uneingeschränkter Respekt und Akzeptanz der Rituale und der Lehren gefordert. Der Wille der Gruppe steht über den Zielen und den Absichten der Fremden.

Die Schauspieler sind alle sehr überzeugend, der Kulturschock, die Naivität der Besucher, der Konkurrenzkampf in der Clique, die anstrengende Liebesbeziehung, alles wird sehr überzeugend rübergebracht. Der Kult in seiner selbstgewählten Isolation und mit seiner zunächst unsichtbaren, selbstverständlichen Hierarchie ist so spannend inszeniert, dass man bis zum Schluss ungläubig und doch fasziniert auf das sich auffächernde, grausame Midsommar-Ritual schaut.

Man müsste den Film ständig anhalten, um jedes Detail an den Wänden, im Hintergrund und auch in den Dialogen wirklich zusammenzubringen. Und doch lenkt die optische und akustische Komposition nicht vom Inhalt ab. Sie rahmt eine üble Geschichte sehr treffend ein.

Midsommar

Spanien/USA 2019, 147 Minuten

Regie: Ari Aster; Darsteller: Florence Pugh, Jack Reynor, Will Poulter, William Jackson Harper, Liv Mjönes, Björn Andrésen

Kinostart: 26.09.2019

Vor Kinostart am Montag, 9.9.2019 in den Passage Kinos „Freaky Monday – Filme NICHT für Jedermann“, 21:00 Uhr, OmU


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  1. Noch nie hat ein Film gekannt, wie man ein Universum in der Nähe von Hölle und Himmel auf diese Weise heiraten kann. Und so all die Begriffe, die zu beiden gehören. Auf diesem Niveau ist es einfach beeindruckend. Weit entfernt von den von Jason Blum formatierten Produkten oder standardisierten Produktionen für hirnlose Jugendliche stehen wir hier vor einem viel bedeutsameren, effizienteren und realistischeren viszeralen Terror. Dennoch müssen wir „Midsommar“ einen großen Fehler einräumen; : seine Länge. Und noch wichtiger hier. Zwanzig Minuten weniger über die zweieinhalb Stunden dieser Arbeit hätten ihm nicht geschadet, vor allem im letzten Teil des Rituals, das sich viel zu lange hinzieht und den Film daran hindert, den Status eines kleinen Meisterwerks zu erreichen. Außerdem weiß der Filmemacher, dass er Gold in der Hand hat, dass er hervorragend filmt und dass sein Drehbuch Zwiebel ist. Wir verspüren daher eine Tendenz, sich gefilmt zu sehen und seinen Spielfilm mehr als vernünftig zu machen.
    Eine rundum gewinnbringende und rettende Originalität in einer von Wiederholungen und Ideenlosigkeit durchtränkten Kinolandschaft. Ein anderes und radikales Kino, noch mehr als „Hérédité“, das schon gut erschüttert war. Entweder nehmen wir an der scheinbar himmlischen, aber in Wirklichkeit höllischen Reise teil, oder wir bleiben am Rande und riskieren, die Zeit lang und die Arbeit völlig umsonst zu finden.
    Von der ersten Szene in New York an erzeugt er ein Unbehagen, die Psychologie der Heldin darzustellen, ein Unbehagen, das uns während des gesamten Films nicht verlassen wird.
    Was bei der Ankunft junger Erwachsener wie ein von Zeit und Mode abgeschnittenes Eden zu sein scheint, wird zu einem Albtraum. Aber kein drastischer und trockener Albtraum wie in Slashern oder Filmen wie „The Hill Has Eyes“. Etwas viel realistischer und heimtückischer. Und jede Aufnahme und jedes Detail führt uns in diese seltsame und angsteinflößende Richtung. Die Pläne genau: Sie sind akribisch ausgearbeitet, die kleinste Bewegung der Kamera und das kleinste Detail des Dekors scheinen ihre Bedeutung zu haben.
    Ein neues und bezauberndes Setting, das viel mit der Atmosphäre von „Midsommar“ spielt und das die Sommersonnenwende, wenn es nie dunkel wird, noch origineller und seltsamer macht. Eine Stunde lang spüren wir, wie sich eine Spannung und ein latentes Unbehagen aufbauen. Dann mischt eine Szene seltener visueller und psychischer Gewalt die Karten neu. Es werden noch mehr kommen, aber diese Szenen werden selten sein. Gepaart mit einer Menge bizarrer Details werden sie eine faulige und unruhige Atmosphäre kristallisieren, die anhält, zu einem abschreckenden Epilog, wenn nicht blutig oder widerlich.
    Die Bilder sind furchtbar schön, die Szenerie absolut bezaubernd und die Riten sind gekonnt orchestriert und choreografiert, aber was auf der Leinwand passiert, ist faul und schädlich für die Helden wie auch für den Betrachter. Diese erhabene Diskrepanz zwischen Form und dem, was tatsächlich geschieht, ist unerbittlich und beeindruckend und verstört unseren Geist zutiefst.
    Das Ergebnis ist ein völlig einzigartiges, faszinierendes und faszinierendes Werk.
    dieser Film wird immer ein unvergessliches Erlebnis für sein Thema sein, und der Moment, in dem ich ihn sah … und mit dieser unvergesslichen Person, die mich dazu gebracht hat, diese Zeilen zu schreiben, in der Hoffnung, sie eines Tages zu finden und so gute Momente zu teilen. ..wenn sie schaut sich diesen Text an, weil sie diesen Film liebt.

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