Die Neuköllner Oper in Berlin bringt in Zeiten von #MeToo „Giovanni. Eine Passion“ zur Uraufführung
Ist Don Juan ein zeitloser Mythos? Diese Frage stellt sich das Stegreif-Orchester in dem Stück „Giovanni. Eine Passion“. Auf der Suche nach Antworten wird der Zuschauer zum Ursprung der Legende des Don Juan nach Sevilla entführt. In einem friedhofsähnlichen Setting – es riecht nach der verstreuten Erde, Nebel ziehen düster durch den Saal – werden Giovannis Geschichten aus Mozarts Oper inszeniert. Das Bühnenbild bezieht die Zuschauer mit ein, die verschiedenen Bühnen dienen zum Spiel und als Aufenthaltsort der Zuschauer. Ein skurriles, ausgelassenes Treiben zwischen Totenfeier, Karnevalstaumel und Prozession. Die Protagonisten spielen, singen, tanzen und spielen Instrumente (alles gleichzeitig!) in Kostümen, welche in die Zeit Giovannis reichen, aber deutlich überzeichnet sind. Frauen- und Männer-Bilder, Rollenerwartungen werden aufgebrochen. Es geht um die Ambivalenz von Anziehung und Verführung. Wann wird die Verführung zum Übergriff?
Warum konnte Giovanni/Don Juan so einen Reiz ausüben? Einer, der Frauen wie Trophäen sammelte, ohne Respekt mit ihnen umging. Und warum war oder ist diese Haltung immer noch gesellschaftsfähig? Gerade auch in der Kunst findet man viele Beispiele: Gottfried Benns Spruch „Gute Regie ist besser als Treue“ fällt einem ein, oder die parallelen Frauengeschichten eines Berthold Brecht, der sogar noch einen Schritt weiterging und seine Gefährtinnen auch intellektuell und künstlerisch ausbeutete. Und es geht weiter: Donald Trump, der aktuelle amerikanische Präsident, trug eine feinsinnige Verachtung für Frauen in die Welt, als 2016 ein Mitschnitt von 2005 veröffentlicht wurde, in dem er mit sexuellen Übergriffen prahlte, und er sich nicht davon distanzierte.
Die Diskussion ist vorbei
Doch dann kann #MeToo – ein Hashtag, das ab Mitte Oktober 2017 im Zuge des Weinstein-Skandals die sozialen Netzwerke aufmischte. Die Phrase „Me too“ geht auf die Aktivistin Tarana Burke zurück und wurde als Hashtag durch die Schauspielerin Alyssa Milano populär, die betroffene Frauen ermutigte, mit Tweets auf das Ausmaß sexueller Belästigung und sexueller Übergriffe öffentlich zu machen. Seitdem hat sich sehr viel verändert. Das Dilemma von „Giovanni. Eine Passion“ ist, dass die Idee und Konzeption offensichtlich vor der MeToo-Bewegung entstanden ist. Die Diskussion, welche das Stück führen will, ist (zum Glück) vorbei. Die tausenden Frauen um Tarana Burke und Alyssa Milano haben es geschafft, dass sexuelle Übergriffe und Gewalt gegenüber Frauen heute fast ohne Einschränkung geächtet sind.
Doch dieses inhaltliche Manko ändert nichts an der künstlerischen Qualität des Abends. Der Anspruch des Stegreif-Orchesters, den Orchestergraben aufzubrechen und die klassischen Raumkonzepte zu verändern, wird wunderbar eingelöst. Giovannis Sehnen und seine Sucht treiben die Darsteller an. Zuschauer werden zum Teil des Spiels, wenn sie sanft von einer Ecke des Raumes in der andere gedrängt werden. Die ekstatischen Aktionen, hautnah erlebt, entfalten eine wunderbare Wirkung. Ganz anders ist das, als wenn man in einem großen Opernhaus aus hinterer Reihe eine Aufführung erlebt. Es knistert also in der Neuköllner Oper. Mehr als zwei Stunden sehr gute Unterhaltung.
Giovanni. Eine Passion
Regie: Ulrike Schwab
Musikalische Leitung: Juri de Marco/Anna-Sophie Brüning
Neuköllner Oper, Berlin, 10. Oktober 2019
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