DOK Leipzig: Anne Scheschonk erschafft mit „mySELFie“ ein warmes Porträt über eine (erkrankte) Jugendliche zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung
Die 14-jährige Maya leidet seit zwei Jahren an „Alopecia areata“, besser bekannt als kreisrunder Haarausfall. Ihr Körper stößt ihre eigenen Haare wie einen Fremdkörper ab. Scheschonk begleitet ihre Protagonistin im Dokumentarfilm mySELFie in deren Alltag, der sich im Wesentlichen kaum von dem Gleichaltriger unterscheidet. Zu Beginn sieht man die Protagonistin in einem Videoclip wild tanzend mit quirlig-bunt eingefügten Animationen. Ein Video, welches in dieser Machart in den sozialen Medien häufig zu finden ist. Bis auf den Unterschied, dass Maya keine Haare hat. Zu Beginn der Krankheit habe sie es gar nicht so recht registriert – „es war ein Problem, aber kein Drama.“ Als sie jedoch begriff, dass ihre Haare nicht wiederkommen werden, weinte sie viel. „Das war erst mal nicht so ne gute Zeit“, stellt sie recht abgeklärt fest.
Fehlende Einblicke in die Gefühlswelt
Mit der Erkrankung geht einher, sich den Beurteilungen anderer Menschen ausgesetzt zu fühlen. Die Leute fragen sich, ob sie Krebs und die Haare durch eine Chemotherapie verloren habe. Sie reden hinter ihrem Rücken. Manchmal ist es Maya egal, was andere denken, manchmal auch nicht. Eine Beschreibung, wie es ihr geht, wenn die Leute dies tun oder ein Einblick, was es konkret bedeutet, wenn es ihr manchmal eben nicht egal ist, bleiben aus. Vor allem in der Öffentlichkeit trägt sie eine Mütze, damit die Leute ihren kahlen Kopf nicht sehen können. Mit ihren Freundinnen unterhält sich die Protagonistin über die Momente, als sie in der Schule zu Beginn aufgefordert wurde, ihre Mütze abzusetzen. Sie war zu der Zeit eine andere Maya – „sehr schüchtern“, erzählt eine Freundin. Während der Dreharbeiten wirkt sie allerdings fröhlich, humorvoll, selbstbewusst und ausgelassen. Eher am Rande wird spürbar, dass sie durchaus ab und zu unsicher ist, wie andere über sie denken könnten und dass sie sich mit dem Thema am liebsten gar nicht auseinandersetzen möchte. Die Momente, in denen Maya vor der Kamera tiefere Einblicke in ihre Gefühlswelt ermöglicht, sind rar.
Überraschendes Eingreifen aus dem Off
Mayas Freundin war aufgrund psychischer Probleme in einer Klinik. Sie erzählt ihr, dass sich viele Patienten eingesperrt fühlten und ausgerastet sind. Maya schweigt, hält jedoch die Hand ihrer Freundin ganz fest. Erst- und einmalig mischt sich Scheschonk aus dem Off ein, indem sie fragt, ob Maya solche Gefühle kenne. Nein. Auch im Bett liegen und weinen sei ihr fremd. Es scheint, als ob die Regisseurin in diesem Moment eine Chance sah, dass sich Maya womöglich ebenso wie ihre Freundin emotional tiefer öffnen würde. Deren Reaktion verdeutlicht jedoch, dass sie als starke Person betrachtet werden möchte, welche nicht von Traurigkeit oder Aufgeben geprägt ist. So sagt Maya an anderer Stelle auch: „Die ganze Zeit nur heulen und Selbstmitleid – nee.“ Die Frage drängt sich auf, ob sie tatsächlich niemals traurig ist oder ob sie dies nur vor der Kamera nicht zeigen möchte.
Vom Selbstbild …
Der Film arbeitet ohne klassische Interviews und Kommentare. Vielmehr lässt er Bilder für sich sprechen. Die Szenen im Kreise der Freundinnen sind zumeist aus der Ferne aufgenommen, während die Familienszenen oft aus der Nähe gezeigt werden. Es findet so ein angenehmer Wechsel von außenstehenden, vorsichtigen Beobachtungen und detaillierten, intimen Einblicken statt. Beobachtende Szenen des Alltags wechseln sich zudem mit Selfies von Maya ab, welche sie in sozialen Medien geteilt hat. Diese sind ihre Möglichkeit zu zeigen, wie sie sich selbst sieht und inszeniert. Zudem verdeutlichen sie die Chance, die Außenwahrnehmung zu steuern, welche bereits in Mayas Alter eine große Rolle spielt. Durch die selbstbewussten Selfies wird das starke und unbezwingbare Bild der Protagonistin, welches die Dokumentation versucht zu vermitteln, untermauert. Und eventuell ist genau dies der Kern des Filmes: Es geht nicht darum, ob auch Maya einmal traurig oder voll Selbstmitleid ist. Im Fokus steht, dass sie einen Umgang mit der Erkrankung erlernt hat und diese akzeptiert. Dass sie von allen Menschen gleich behandelt und nicht als anders betrachtet werden möchte.
… und Fremdbild
Besonders eindrücklich sind die dramaturgischen „Spiegelszenen“, in welchen die Balance von Fremd- und Selbstbild auf die Leinwand projiziert wird. In diesen sieht man Maya in mehreren Spiegeln und ihre Stimme ist erzählerisch aus dem Off zu hören. Es wirkt, als blicke sie direkt in die Kamera, bevor die langsame Kameraführung aufzeigt, dass es sich nur um eine Spiegelung handelt. Die Szenen vereinen den Blick der Außenwelt auf Maya und ihr Selbstbild im Spiegel, während sie über sich und ihre Krankheit erzählt. Diese Szenen lehnen laut Scheschonk an Lacans Theorie des „Spiegelstadiums“ an, welche versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie im Menschen Selbstbewusstsein entsteht und funktioniert. Maya stellt am Ende des Filmes fest, dass sie nicht immer so selbstbewusst war, wie sie das jetzt ist. „Aber durch den Haarausfall bin ich selbstbewusster.“
Anderssein heißt nicht Doofsein
Der Film ist für den Young Eyes Film Award der Jugendjury nominiert und hätte die Auszeichnung definitiv verdient. Scheschonk gelingt es, ein liebevolles Porträt von Maya auf die Leinwand zu bringen statt die Krankheit selbst in den Vordergrund zu rücken. Doch selbst wenn es mit dem Preis nicht klappen sollte, wird Mayas Botschaft hoffentlich in vielen Köpfen bleiben und reifen: „Die meisten Leute sehen das ja so, wenn man anders ist, ist man doof; wenn man nicht so ist, wie man sein sollte. Aber eigentlich muss das ja nicht direkt heißen, dass du schlecht bist. You know what I mean?“
mySELFie
Deutschland 2019, 50 Minuten
Regie: Anne Scheschonk
DOK Leipzig 2019, Internationales Programm kurzer Dokumentar- und Animationsfilm
Vorführungstermine, Katalogtext
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