Dem Schweigen lauschen

Jakob Hayners Essay „Warum Theater“ zeigt – zufällig zu einer Zeit geschlossener Häuser –, dass der aktuellen Bühnenkunst mehr fehlt als der bloße Ereignischarakter einer physischen Inszenierung

Im Jahr 1983 inszenierte der bulgarische Regisseur Dimiter Gotscheff zum ersten Mal Heiner Müllers Stück Philoktet in Sofia. Müller schrieb ihm: „Wenn die Diskotheken verlassen und die Akademien verödet sind, wird das Schweigen des Theaters wieder gehört werden, das der Grund seiner Sprache ist.“ Können wir dieses Schweigen vernehmen, während alles geschlossen ist? Oder sind die Versuche des Theaters, weiter relevant zu bleiben, allzu laut? Heiner Müllers Gedanke zielt auf den Unterschied zwischen spätkapitalistischem Vergnügen und der Aufgabe des Theaters, uns die Leere dieses einseitigen Vergnügens aufzuzeigen. Was aber, wenn sich das Theater zu den Vergnügungen gesellt? Welche Aufgabe hat es dann noch? Stadttheater und Theatergruppen bemühen sich in der Krise der Präsenz händeringend um ihr Publikum. Digitale Inszenierungen (k., Schauspiel Leipzig), Bühnenstreams (nachtkritik.de) oder Poesie-Ambulanz (Thalia Theater Hamburg) sollen retten, was nicht erst seit der Pandemie fragwürdig geworden ist.

In diese Lage hinein argumentiert nun, gewollt oder nicht, Jakob Hayners Essay Warum Theater. Nicht ohne Grund fehlt ein Fragezeichen. Denn die Streitschrift mit dem Untertitel Krise und Erneuerung ist weniger als Frage denn als Aufforderung zu verstehen. Zu einer Zeit, da die Theater geschlossen haben, erhält der radikale Wunsch, den Hayner äußert, eine gespenstische Aktualität: „Würde man die Theater schließen, wie einmal Heiner Müller forderte, könnte das immerhin Ausdruck ernsthafter Reflexion sein – der Nullpunkt, von dem Neubesinnung und -bestimmung ausgehen könnte.“ Be careful, what you wish for. Denn nun stehen wir hier und sind gezwungen, uns der Frage tatsächlich zu stellen: Ich habe doch Netflix, warum noch mal muss ich ins Theater?

Weit davon entfernt, eine konkrete Antwort parat zu haben, unterzieht Hayner den Theaterdiskurs der letzten Jahrzehnte einer radikalen Kritik. Das applied theatre, das sich an Theaterpädagogik und -therapie orientiere, wäre dabei von einer „Nützlichkeit“ geprägt, die den Menschen eher im Sinne einer emotionalen Stabilisierung durch den Alltag verhelfe. Der performative turn hätte das Theater seiner (dramatischen) Handlung beraubt und das postdramatische Theater schließlich jedwede über sich selbst hinausweisende Bedeutung ad acta gelegt, um nur noch um sich selbst zu kreisen. Dabei geht es Hayner ausschließlich um die formalen Aspekte des Theaters, denn, wie er Adorno paraphrasiert, objektiviert sich „in der Form die Kritik und tritt aus dem Reich des bloßen Meinens über in das ‚Urteil in der Zone der Urteilslosen‘.“ Daraus folgt für ihn, dass es keine unpolitische Form gibt, dass jedes Theater in diesem Sinne politisch – fragwürdig oder eben befreiend – ist. Das hat zur Folge, dass Hayners Begriff des Theaters in einem Kunst- und Kulturverständnis aufgeht, das die dezidierten Eigenschaften der physischen Aufführung unterschlägt bzw. nicht weiter problematisiert. Die Frage generalisiert sich dahingehend zu: „Warum überhaupt Kunst im Spätkapitalismus?“

Das Politische des Theaters hat ihm zufolge einige Formfehler. Einerseits sei es allzu sehr auf symbolische Aktionen konzentriert und setze damit auf Schockwirkungen, die das Publikum abstumpfen und verunsichern, anstatt zum eigenen politischen Engagement zu ermutigen. Andererseits arbeite sich das Theater am Wert biographischer Narrative und der Diskussion identitärer Gruppenzugehörigkeit ab, anstatt an einem künstlerischen Universalismus zu arbeiten. Neben einigen Namen von Theaterkollektiven, die er als Beispiel dieser Entwicklung anbringt, wie etwa Rimini Protokoll mit ihren „Experten des Alltags“, sind im Hintergrund unbenannt auch einige andere zu erkennen, wie beispielsweise Milo Rau und sein „Institute of International Political Murder“. Worauf sich Hayner aber scheinbar keineswegs einlässt – die Form des Essays ließe es wohl auch nur bedingt zu – ist, seinen eigenen Widerspruch an den konkreten Theaterformen zu messen – anstatt aus der Wolke heraus Verblendung, Verwertung und Verbrämung zu rufen.

Viele Punkte dieser substanziellen Kritik am Theater kennen wir schon von Bernd Stegemann (Kritik des Theaters, 2015). Im Kern geht es um eine Repolitisierung des Theaters nach einer Zeit, die angeblich von rein ästhetischen oder pseudopolitischen Debatten geprägt war. Stegemann ist dabei ein Verfechter eines antagonistischen Theatermodells, das widerstreitende Positionen evoziert, eine Diskussion anstößt und breite Bevölkerungsschichten darin integriert. Jakob Hayner dagegen kommt aus einer gesellschaftstheoretischen Ecke der Theoriebildung. Seine wichtigsten Argumente orientieren sich an Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Darstellung der Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung und an der psychoanalytischen Tradition der Kritischen Theorie generell. Das führt leider dazu, dass einige Argumente gegen aktuelle Theaterformen wie ein kulturpessimistischer Anachronismus klingen. Die Mischung aus psychoanalytischer Engführung gesellschaftlicher Prozesse und (post-)marxistischer Kritik am state of the art vermengen sich vielerorts zu apodiktischen Leerzeilen, die anmuten, als ob sie in der WG-Küche nach dem letzten Marx-Lesekreis zusammengerührt wurden: „Die Idee des Theaters, um deren Erneuerung es gehen soll, speist sich aus dem Surplus der Form.“

Festzustellen bleibt aber, dass Hayner als einer der Wenigen offenlegt, was mittlerweile ohnehin für alle sichtbar zutage getreten ist: Scheinbar geht das Leben auch ohne Theater weiter und die nachträgliche Digitalisierung wird es dieses Mal nicht richten. Denn der Theaterdiskurs tut immer noch so, als ob Live-Präsenz und physische Gemeinschaft des Publikums die einzig herausragenden Eigenschaften des Theaters wären, ohne die es derzeit ungebremst in die Krise stürzen muss. Die digitale Imitation dieser Eigenschaften über Live-Streams und Videochats zeigt, dass diese Dinge sich entweder nicht imitieren lassen oder, wenn wir Hayner folgen, dass vielleicht mehr fehlt als der bloße Ereignischarakter einer physischen Inszenierung. Bevor wir also dank der Lockerungsmaßnahmen wieder zurückkehren in die prunkvollen Säle des gehobenen Vergnügens und wieder abgelenkt werden vom Theater, das seine eigene Krisentendenz von sich weist, sollten wir uns die Frage nach dem „Warum Theater?“ ernsthaft stellen – und dem Schweigen eine Weile lauschen.

Jakob Hayner: Warum Theater

Matthes und Seitz

Berlin 2020

160 Seiten, 15 Euro

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