Agieren ins Offene

Judith Siegmund, Professorin für Gegenwartsästhetik, rehabiliert in ihrem neuen Buch die Zweckfreiheit der Kunst

Der Zweck einer Handlung liegt außerhalb unserer selbst, aber auch außerhalb der Handlung selbst. Der Zweck der Handlung Tanzschritte zu machen kann zum Beispiel darin liegen, Tango zu tanzen. Er ist damit das Ziel, um dessen Willen andere Dinge getan werden. Der Zweck einer Handlung darf aber nicht bloß eine Illusion sein, sondern muss eine intendierte Wirksamkeit entfalten. Diese Art der inneren Zwecksetzung muss als Figur der Selbstermächtigung aufgefasst werden. Denn der künstlerisch Handelnde ist sowohl jemand, der etwas will und nicht beliebig entscheidet, als auch jemand, dessen Absichten determiniert und in soziale Kontexte, Normen und gewohnte Praktiken eingebettet ist. Insofern fällt die tatsächliche Wirkung von Kunst nicht immer mit ihrer gewollten Wirkung zusammen.

In ihrem stringent argumentierenden Buch Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert – erschienen in der Reihe Ästhetiken X.0 – Zeitgenössische Konturen ästhetischen Denkens – beschreibt die Autorin Judith Siegmund genau dieses Verhältnis. Im 21. Jahrhundert wandelt sich nämlich der gesetzte innere Zweck von Kunst, sodass er nicht mehr identisch ist mit dem, was letztlich als Zweck des Getanen, des Geäußerten oder Verkörperten existiert. Seine Bedeutung obliegt auch nicht allein dem handelnden Künstler. Denn dem Künstler steht – und das ist neu! – eine Grundstruktur der Umwelt und Mitwelt gegenüber, die derjenigen ähnelt, nach der die Künste selbst strukturiert sind. Insofern bleibt nicht nur die innere Zwecksetzung prekär, sondern auch externe Zwecksetzungen lenken die künstlerische Entfaltungskraft.

Um dem Leser diesen Quantensprung klarzumachen, hebt Siegmund, die seit 2018 Professorin für Gegenwartsästhetik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart ist, Schicht für Schicht philosophische Theorieangebote für den ästhetischen Diskurs. Sie sieht darin eine Fundgrube, in der viele Möglichkeiten des Weiterdenkens schlummern. Aus ihnen zieht sie dann jeweils Impulse für die eigene, allerdings nur in Umrissen angedeutete Theoriebildung. Ihre eigene Theorie der Zwecke, die am Ende des knapp 200-seitigen Buches formuliert wird, hält sie selbst erst für den Beginn einer weiteren Analyse zum Thema.

Zwei Anknüpfungspunkte bilden dabei die Ausgangslage für Siegmunds Untersuchungen des Zweckbegriffs in der Kunst. Einerseits steht am Anfang die Beobachtung, dass seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Debatten der philosophischen Theorie der Begriff des Zwecks in nahezu naiv vereinfachter Weise mit allem gleichgesetzt worden ist, von dem sich die Künste distanzierten. Im Gegenzug wurden bestimmte Unbestimmtheitssemantiken auf die Kunst angewendet, die unter dem Terminus der Zweckfreiheit der Kunst eine Bündelung erfahren. Dabei wurden die Begriffe Zweck und Funktion mit den Begriffen Nutzen und Instrumentalisierung nahezu gleichgesetzt. Andererseits – und das ist ihr zweiter Anknüpfungspunkt – arbeitet Siegmund selbst als Konzeptkünstlerin, macht Videos, multimediale Installationen und dokumentarische Bücher zu aktuell brisanten Themen. Daher rührt auch ihr praxisnaher Blick auf das künstlerische Arbeiten, die Handlungsweisen und die Rezeptionen von Kunst.

Der Blick auf den Wandel des Zweckbegriffs in der Kunst, so konstatiert Siegmund, war am Anfang der Theoriegeschichte eher strukturell, objektivistisch und teleologisch. Ein intentionales Moment war geradezu ausgeschlossen. Kunst war Ausdruck des Lebens selbst. Mit den Aristoteles-Auslegungen des Thomas von Aquin kommen auch teleologische Momente mit in die Überlegungen hinein. So entstanden nach und nach Diskurse der Unverfügbarkeit, die bis in die Moderne reichen. Neben der Erläuterung und Beschreibung von Praktiken verschiedener Künste, einer zusammenfassenden Rekonstruktion von Diskursen des Designs sowie einer kurzen Erläuterung des soziologischen Begriffs des Funktionalismus wird der Autonomiediskurs der Kunst in der Moderne von Siegmund nur ausschnitthaft behandelt. Denn die Kunst, wie sie uns heute im Kontext einer westlich orientierten Theorieperspektive bekannt ist, gibt es nach Siegmund erst seit der Entstehung des bürgerlichen Geschmacksurteils im 18. Jahrhundert. Hier bildete sich eine neue Form des Urteilens und Wahrnehmens heraus. Erst mit dem Bürgertum entstand eine neue Klasse, für deren Selbstverständnis Freiheit eine emphatische Bedeutung hatte. Freiheit spielt seitdem nicht nur im philosophischen Kontext eine Bedeutung, sondern auch im ästhetischen Geschmacksurteil. Denn im Geschmacksurteil sind die Menschen freier als in sonstigen Handlungen.

Mit der Autonomie der Kunst begann der Siegeszug der ästhetischen Haltung gegenüber der Welt im Gegensatz zu allem Nicht-Ästhetischen. Nicht ästhetisch waren hingegen das begrenzte Erkennen und die normative Moral, mithin Philosophie. Dass die Autonomie der Kunst im 20. und im 21. Jahrhundert eine so entscheidende Rolle spielt, hängt mit der Kant-Rezeption innerhalb der deutschsprachigen ästhetischen Theorie zusammen. Siegmund zeigt ausführlich, wie sich Kants Rede von der „Zweckhaftigkeit ohne Zweck“ in der Idee der Kunstautonomie zu einem Dogma der Zweckfreiheit modifiziert und vergleicht sein Theorieangebot mit denen anderer Philosophen und Soziologen.

Spätestens im 20. Jahrhundert steckte die Philosophie dann mithilfe der Kunst ihre eigenen Grenzen genauer ab. Die Kunst wurde als Spiegel eingesetzt, den sich die Philosophie vorhielt, um sich besser zu verstehen. So wurde die Kunst aufgewertet, zugleich aber in der Praxis auch wieder zum Beispiel politisch instrumentalisiert. Ab dem 21. Jahrhundert ändert sich aber wiederum das Verständnis der Funktion von Kunst, die nunmehr eher eine „Brückenfunktion“ einnimmt, die alle Formen affektiver, kommunikativer bzw. dienstleistender Arbeit einander annähert bzw. sie bündelt und vergleichbar macht. Kunst wird zur immateriellen Arbeit, die auch eine Form von Wissen produziert.

Nach Siegmund ändern sich nun aber die Rahmenbedingungen für Kunst. Deshalb stellt sich für sie die Frage, wie sie sich ändern. Denn erst mit der Beantwortung dieser Frage lässt sich die Frage nach dem Zweck der Kunst besser ausleuchten. Für Siegmund lässt sich eine gesellschaftliche Gesamtentwicklung im 21. Jahrhundert schon allein deshalb nicht allein unter Rückgriff auf die alte Idee der Künste erläutern, weil dieses Weltverhältnis nicht allein rational ist, wie das die Aufklärung noch suggerierte. Vielmehr ist das menschliche Weltverhältnis immer auch ein künstlerisch-affektives ludisches Verhalten, wie Siegmund schreibt. Zunehmend wird es ein Verhalten der Selbstinszenierung von Eigenkomplexität. Die Paradoxie des Selbst- und Weltverhältnisses im 21. Jahrhundert ist es nun nach Siegmund, dass eine rational verwaltende, von Menschen installierte, technische Struktur eine quasi irrationale, auf Emotionen, Affekten und irrationalen anschaulichen Urteilen gründende Kultur der Vereinzelung ermöglicht. Damit aber – so schließlich das Fazit von Judith Siegmund – steht die Bestimmung der spätkapitalistischen Gesellschaft als ganze wieder neu zur Disposition. Und die Künste finden dann ihren Zweck darin, zu dieser Ortsbestimmung etwas beizutragen und zu ihr hinzuführen. Denn Kunst ist immer auch ein Agieren ins Offene.

Judith Siegmund, Zweck und Zweckfreiheit. Zum Funktionswandel der Künste im 21. Jahrhundert

Metzler-Verlag

Stuttgart 2019

203 Seiten, 37,99 Euro

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