DOK Leipzig 2020: Carsten Rau schafft mit „Atomkraft forever“ ein beeindruckendes Zeitbild
Ruhig liegt es da, beinahe friedlich auf grüner Wiese und zwischen Bäumen.
Wo Vögel zwitschern und der Alltag präsent scheint, da gehen tagaus, tagein, Menschen ein. Sie beleben mächtige Gebäude, deren Monolithen kubisch bis hyperbol in den Himmel ragen – Kühltürme, Blöcke, Kraftwerke, Reaktoren. „Sonnen in Menschenhand.“
Jan Meyer, verantwortlich in der Abteilung Technik, führt durch das Atomkraftwerk in Greifswald. Die Entscheidung zur Demontage des Kraftwerks in Greifwald erfolgte bereits 1990, nach Beschlüssen der Bundesregierung sollen die übrigen 17 Kernkraftwerke bis 2022 folgen. Meyer sitzt in seinem Büro, nimmt mit in den ehemaligen Kontrollraum oder führt in das Innere der Betonblöcke. „Das war mal das Herz des Kernkraftwerkes.“ Gemeint ist ein in die Tiefe gehender, zylindrischer Schacht, ehemals Wärmehort, Ort von Kernfusion.
Von den mehr als 800 Räumen des Bauwerks wurden bisher 250 dekontaminiert bzw. demontiert. Die Überbleibsel verschwinden in riesigen blauen Schiffscontainern, die wiederum zu Hunderten in einer Halle eingelagert werden. Radioaktiver Müll für Generationen.
Gab Fukushima 2011 den Anlass zum Ausstieg, birgt jene Abkehr aber auch Risiken und Herausforderungen. Wohin mit dem Atommüll? Wie Energieschwankungen ausgleichen? Kann es ein sicheres Endlager überhaupt geben? „Fakt ist, wir haben derzeit keinen Speicher, der groß genug ist, um Deutschland einen Tag mit Strom zu versorgen“, erläutert Joachim Venzetta, Leiter der Systemführung Netze des Unternehmens Amperion. Damit verweist er auf ein interessantes Paradox: Je mehr Kernkraftwerke abgeschaltet werden, desto weniger Energie steht im Netz zur Verfügung, desto mehr rücken fossile Energieträger wieder in den Fokus. Denn: Nur auf diese Weise können Schwankungen, bedingt durch Sonne und Wind, effektiv ausgeglichen werden.
Was folgt, sind Einblicke in unterschiedliche Settings. Die Zuschauer:innen begleiten Wissenschaftler:innen bei der schier endlosen Suche nach einem Endlager für Atommüll, während Jungwissenschaftler bei einem Kongress in Frankreich die Kernenergie als Zukunftsenergie preisen. Dies alles ist eingefangen in ruhigen Bildern und langen Kamerafahrten nebst wenigen Schnitten. Es sind sowohl Menschen die zur Sprache kommen, als auch Bilder die für sich sprechen. Vom Arbeiter zur Anwohnerin, vom Befürworter zum Kritiker, vom Laien zum Experten – Regisseur Carsten Rau schafft mit Atomkraft forever ein beeindruckendes Zeitbild, dessen Aktualität uns noch Dekaden begleiten wird.
Der Ausstieg von der Atomkraft ist beschlossen, der Kampf mit deren Folgen aber längst nicht abgeschlossen.
Atomkraft forever
Deutschland 2020, 94 Minuten
Regie: Carsten Rau
Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm 2020
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