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Ein Flüchtlingstreck zieht zu Fuß nach Europa: Timur Vermes‘ neue bitterböse Gesellschaftssatire

Es ist sein zweiter Geniestreich. Nach seinem Erstlingswerk “Er ist wieder da” ist Timur Vermes‘ bitterböse Gesellschaftssatire “Die Hungrigen und die Satten” von der Art, dass einem zuweilen das Lachen im Halse stecken bleibt. Der Autor studierte Geschichte und Politik und arbeitete anschließend als Journalist und Übersetzer für verschiedene Zeitungen und Magazine. Christa Maria Herbst setzt das Buch im Übrigen sprachlich kongenial als Hörbuch um.

Das Buch ist brandaktuell, auch wenn das Thema Flüchtlinge gerade von der Corona-Pandemie überdeckt wird. Es ist ebenso beklemmend angesichts der Bilder aus dem griechischen Flüchtlingslager in Moria. Es ist radikal zu Ende durchdacht und genial mit seiner so simplen Idee. Gleichzeitig ist es aber in der Zeichnung seiner Figuren auch wieder urkomisch. Diesen Spagat muss man erst einmal hinkriegen!

Die Ausgangssituation

Nach dem Putsch gegen Kanzlerin Angela Merkel hat Deutschland eine Obergrenze für Asylsuchende eingeführt. Ganz Europa ist nicht nur bis zu den EU-Außengrenzen, sondern bis weit nach Afrika hinein abgeriegelt. Millionen Flüchtlinge sitzen seit 2 Jahren ohne Zukunft und Hoffnung im größten Flüchtlingslager Afrikas fest. Sie haben nichts mehr außer Zeit und ihre Handys. Zeit und Langeweile ist es auch, die einen von ihnen auf eine geniale Idee bringt: Die Zeit, die sie im Lager mit Warten verbringen, könnten sie eigentlich auch zu Fuß nach Deutschland, ihrem gelobten Land, laufen. Einziges Problem: Sie schaffen es nicht ohne fremde Hilfe durch die Sahara. Ach, käme doch ein Engel …

Auf der Nordhalbkugel indessen gibt es einen Engel. Da kümmert sich nämlich die hübsche, aber doch eher naive Starmoderatorin Nadeche Hackenbusch in ihrer Reality-TV-Show als „Engel im Elend” um tränenrührende Geschichten mit Supereinschaltquoten. Eines Tages kommt der Chef des Privatsenders auf die Idee, die Moderatorin in dieses Flüchtlingslager zu schicken, um ein paar Flüchtlingen die Chance auf eine Model-Karriere in Europa zu ermöglichen.

Der Marsch

Ein junger Flüchtling, von allen Lionel genannt, nutzt die einmalige Gelegenheit und überzeugt die Starmoderatorin von sich und der Notwendigkeit eines medienbegleitenden Marsches nach Europa. Dabei entspinnt sich zwischen der verheirateten Mutter und Lionel eine Liaison. Nadeche Hackenbusch ist angetan von den Menschen und ihrem Liebhaber und will in ihrer Naivität den Menschen vor Ort helfen und entwickelt eine Armutsromantik. Ihr Chef hingegen macht den Marsch zu einem grandiosen medialen Spektakel.

Währenddessen nutzt der Flüchtling Lionel sein Netzwerk im Flüchtlingslager und entwickelt mit einem Mitflüchtling eine geniale Geschäftsidee. Er lässt Verpflegungs- und Sanitärwagen quer durch die Wüste im Abstand von einem Kilometer stationieren und setzt den Treck in Bewegung. Bevor sich der TV-Sender und die Politik versehen, entsteht ein riesiger, aber vorbildlich organisierter Treck quer durch die Wüste. Der Marsch beginnt und führt durch verschiedene Länder. Im Nahen Osten schließen sich weitere tausende Flüchtlinge an.

Solange der Treck auf Durchreise ist und nicht im Land verbleibt und auch noch versorgt wird, haben die Flüchtlinge freies Geleit und werden an keiner Grenze aufgehalten. Für drei Euro pro Tag, die von den Handys transferiert werden, erhalten alle eine Mahlzeit, eine Funkverbindung oder Internet und eine notdürftige sanitäre Versorgung. Sie laufen jeden Tag genau 15 Kilometer, jeder weiß, an welchem Konvoi er versorgt wird. Alle halten sich daran. Einige schaffen den Weg nicht.

Kein allzu fernes Szenario

Während sich der Sender über die tägliche Live-Berichterstattung mit Zuschauerrekorden und Werbemillionen freut, reagiert die deutsche Politik zuerst mit hilflosem Wegsehen, Kleinreden und Aussitzen. Doch je näher der Zug nach Europa voranrückt, desto mehr ist Innenminister Joseph Leubl gefordert, mit der Situation umzugehen. Sein arroganter Staatssekretär, der später seinen Posten übernimmt, entpuppt sich als Karrierist, der über Leichen geht.

Das Buch, das aus Flüchtlingsperspektive geschrieben ist, ist nicht nur als Beitrag zur Migrationsdebatte mit besonderem Blick auf den weltweiten Rechtsruck in Politik und Gesellschaft zu verstehen, sondern auch als alternativer Vorschlag, mit der Asylpolitik umzugehen. Den entscheidenden Hinweis auf diese Alternative liefert ausgerechnet der sonst sehr konservative Innenminister Joseph Leubl. Doch dafür ist es zu spät. Es gibt einen Schießbefehl, und die Katastrophe geschieht.

Nichts wird so bleiben, wie es ist

Vermes inszeniert zum Schluss alles durch: Denn nachdem schnell entschieden wurde, dass es zu viele Menschen seien, die nach Deutschland wollen, wird nicht mehr lange gefragt, ob es eine Alternative gibt. Stattdessen wird nur noch über die Art und Weise der Abschottung und die Wahl der strukturellen und technischen Umsetzung gesprochen: Eine Mauer wird hochgezogen, der Mauerdraht unter Strom gesetzt und geschossen. Zum Schluss betritt keiner deutschen Boden.

Doch nicht alles bleibt beim Alten. Die radikale Abschottung und Grenzschließung verändert auch die Menschen im Land, so jedenfalls die Hoffnung, mit der uns Vermes wieder ins reale Leben entlässt. Vermes Innenminister Leubl mit seiner sehr pragmatischen Frage, wie der Wohlstand zu retten sei, hat wohl den Nagel auf den Kopf getroffen – selbst wenn es einem nicht unbedingt schmeckt, dass die vorerst beste Lösung aus den Reihen der CSU kommen soll.

Die Frage – und hier ist Vermes/Leubl zuzustimmen – ist nämlich gar nicht, ob und wie viele Flüchtlinge wir in Deutschland aufnehmen, sondern, ähnlich wie in der Corona-Pandemie: wie die nächste Welle zu managen ist, damit keiner auf eine gute gesundheitliche Versorgung verzichten muss, falls es ihn erwischt.

Auch in puncto Asylpolitik geht es nicht darum, ob und wie viele Menschen in Deutschland leben dürfen. Vielmehr muss sich gefragt werden: Wie ist der Zustrom zu händeln, damit das System nicht kollabiert, die Rechten keinen weiteren Auftrieb bekommen und Wohlstand für alle weiterhin möglich sein kann?

Timur Vermes: Die Hungrigen und die Satten

Eichborn Verlag 2018

509 Seiten, 22 Euro

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