Die Macht der Worte

Büchersonntag, Folge 1: Christina Dalchers Debütroman „Vox“ über eine misogyne Theokratie erschüttert, empört und ermutigt

Jean McClellan ist Neurolinguistin. Als die neue Regierung von religiösen Fanatikern anordnet, dass Frauen ab sofort nicht mehr als 100 Wörter am Tag sprechen dürfen, kann sie das nicht glauben. Das kann nicht sein, nicht im Amerika des 21. Jahrhunderts. Doch schon bald darf sie die Farbe ihres Armbandes für sich und ihre fünfjährige Tochter Sonia auswählen, die die gesprochenen Worte täglich zählen. Bei Überschreiten von 100 Wörtern sendet es immer heftigere Stromstöße aus.

Jean hat früher ihre Mitbewohnerin belächelt, die als Studentin auf unzähligen Demonstrationen war. Mit ihr hat sie sich eine Wohnung geteilt, sie war ihre beste Freundin. Aber während ihre Bekannten gegen die neue frauenfeindliche Regierung auf die Straße gingen, hat Jean die letzten Jahre mit der Erforschung einer seltenen Form des Sprachverlusts zugebracht. Sie wurde zu einer brillanten Wissenschaftlerin.

Darüber hinaus ist die Protagonistin aber auch Mutter von 4 Kindern. Sie führt eine Ehe mit einem Arzt, der bei der Regierung angestellt ist. Ihm gefällt der neue Zustand nicht, bei dem von heute auf morgen allen Frauen und Mädchen ihre Stimme, ihre Rechte, ihre Karrieren und ihre Träume geraubt werden. Denn schlimmer noch als der Wörterzähler an Jeans Handgelenk ist für die beiden Eltern das Armband an Sonias Handgelenk. Denn allen ist bewusst: Die Seele eines kleinen Menschen verkümmert ohne ausreichende Worte, ohne Austausch, ohne Geschichten, Lieder, ohne Kommunikation.

Zum Glück erhält Jean eine unerwartete Chance, ihre Fähigkeiten als Neurolinguistin am Bruder des Präsidenten zum Einsatz bringen zu können. Da sie Spezialistin für Aphasie-Phänomene, speziell das Warnecke-Areal ist, darf sie mit ihren früheren Kollegen ein Team bilden, das ein Serum entwickelt, das den Präsidentenbruder heilen soll. Endlich aus ihrer Starre befreit, ergreift Jean die Chance, zunächst nur für sich persönlich, dann aber auch für alle Frauen zu kämpfen. Dabei erfährt sie, dass sie nicht allein ist.

Christina Dalchers Debütroman Vox erschüttert, empört und ermutigt zugleich. Die Autorin, promovierte Linguistin, beschäftigt sich wissenschaftlich mit dem Lautwandel in italienischen und britischen Dialekten, literarisch hingegen hat sie bereits in mehreren Magazinen und Zeitschriften Kurzgeschichten und Flash Fiction veröffentlicht. Übersetzt wurde Vox von Marion Balkenhol, die bereits auch Werke von J. K. Rowling, Paul Harding und Marion Zimmer Bradley oder Jojo Moyes ins Deutsche übertrug. Der Roman ist eine Fiktion, die einen deshalb so angeht, weil sie zu Ende gedacht und ihre Gefährlichkeit zum Greifen nah ist. Gleichzeitig ermutigt sie, den Anfängen zu wehren, im Privaten wie gesellschaftlich.

Christina Dalcher: Vox

S. Fischer Verlage, 2018

400 Seiten

Leseprobe des Verlags

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