Jüdische Emanzipation im 19. Jahrhundert

Büchersonntag, Folge 4: Kathrin Wittler hat sich in ihrem Buch „Morgenländischer Glanz“ einer diskurs- und literaturgeschichtlichen Aufgabe gestellt, die ihresgleichen sucht.

Mit der Frage nach der Bedeutung des Orientalismus für die deutsche jüdische Literaturgeschichte um 1800 rückt die Autorin Kathrin Wittler eine einzigartige historische Konstellation in den Blick: Sowohl die Geschichte der deutschen Juden als auch die Geschichte des deutschen Orientalismus gelten als europäische Ausnahmefälle – und beider Sonderstatus schlägt sich maßgeblich in ihrer Affinität zur Literatur nieder. Die Literatur diente als zentrales diskursives Verhandlungsmedium für die west-östliche Zwischenstellung der Juden.

Die Autorin ist für die Bewältigung ihres Themengebietes bestens ausgerüstet: Kathrin Wittler hat neben deutscher Literatur und Germanistik auch Asien- und Afrikawissenschaften sowie Arabistik und Hebräisch studiert. Sie absolvierte einen Freiwilligendienst am Leo-Baeck-Institut in London, das unter anderem von Hannah Arendt und Martin Buber gegründet wurde, und lehrt seit 2017 am Peter-Szondi-Institut in Berlin. Für ihr Buch bekam sie den Johannes-Zillkens-Promotionspreis sowie den Sonderpreis der Humboldt-Universität Berlin.

Die „Judenfrage“

Die Autorin lässt uns wissen, dass die Lage und der „Zustand“ der Juden in den 1780er-Jahren zu einem zentralen Problem erklärt wurden, das in den 1830er-Jahren die Bezeichnung „Judenfrage“ erhielt und in keinem anderen europäischen Land so zäh, intensiv und aggressiv diskutiert wurde wie in den deutschen Staaten, wo die rechtliche Gleichstellung der Juden mit der Reichsgründung im Jahr 1871 besonders spät erfolgte.

Dabei ging es um nichts anderes als die Frage der Inkulturation, die sich auch die Juden selbst stellten. Sie forderten eine politische Lösung ihres Status. Seit Jahrhunderten wurden die Juden in Europa ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt. Sie wurden als Gruppe angesehen, die eine Gefahr für die nationale Einheit darstellt. Erst mit den allgemeinen Menschenrechten im Gefolge der Aufklärung wurde die Geleichstellung aller Menschen im Staat ein politisches Ziel. Dies betraf vor allem die bis dahin rechtlich, sozial und politisch unterprivilegierten Juden, die sich so aus ihrer sozialen Isolation befreien konnten. Während Judenfeinde Arbeitslager und Zwangssterilisationen forderten, reichten die Integrationsversuche von „Duldung“ über „Integration“ bis zu „Emanzipation“ und Selbstbestimmung.

Emanzipation durch literarische Produktivität

Den politischen Widrigkeiten stand eine bemerkenswerte intellektuelle Produktivität der deutschsprachigen Juden gegenüber. Diese traten nämlich in einen umfangreichen und einfallsreichen Diskurs ein. Dieser speiste sich vor allem auch daraus, dass die Juden eben keine homogene Gemeinschaft waren. Im Gegenteil, die höchst disparate Judenschaft setzte sich aus Aufklärern, Konvertiten, Reformern, Neo-Orthodoxen zusammen; sie beheimatete den armen Hauslehrer aus den östlichen Provinzen, süddeutschen Viehhändlern, preußische Dienstmägde ebenso wie den reichen großstädtischen Unternehmer. Es gab regionale, konfessionelle und bildungsspezifische Unterschiede zwischen ihnen. Von daher zeigt sich ihr literarisches Diskursverhalten auch als eine konfliktreiche Partizipation und vielgestaltige Suche nach einer nationalen Gruppenexistenz. Damit gehört diese Identitätssuche zwischen 1750 und 1850 insgesamt in eine historische Suche nach nationaler Identität, wie sie insgesamt im kleinstaatlichen, provinziellen und mundartlich getrennten Deutschland zu finden war. Und diese Goethezeit ist bekanntlich nicht nur die Zeit umfassender epistemischer, sozialer, semantischer und kultureller Umbrüche, sondern auch die Blüte der deutschen Nationalliteratur.

Die Juden weisen – so bemüht sich die Autorin aufzuklären – in der Fremdzuschreibung eine west-östliche Zwischenposition auf, sind zwischen Orient und Okzident eingeklemmt. Das Bild von außen bedarf jedoch noch einer Binnenperspektive. Dieser widmet sich Kathrin Wittler, indem sie die Schriften jener Zeit und die besondere Konstellation in ihren Selbstdokumenten zusammenschaut. Damit schafft sie eine Sicht, die nicht nur die Orientalisierung der Juden in der Forschung als eine Spielart von Antisemitismus entlarvt, sondern auch den aus dem Mittelalter stammenden Vorwürfen, die in Europa lebenden Juden hätten einen politischen Verschwörungspakt mit den Muslimen gegen das Christentum, etwas entgegensetzen kann. Denn dieser Vorwurf verliert im 18. Jahrhundert an Zugkraft und verlagert sich zunächst auf die sprachlichen und kulturellen Besonderheiten und später auf den Topos vom Juden als intern Kolonisierten Europas, denn sie orientalisierten sich auch selbst. Aber dieser Befund allein reicht Wittler nicht aus, denn das würde nur die Übereinstimmung von Fremd- und Selbstzuschreibung bedeuten und den Emanzipationsprozess als allein etwas von außen in Rollen Gebrachtes erscheinen lassen.

Die Vielfalt jüdischer Emanzipationsbestrebungen

Gegenüber diesen Zuschreibungsdynamiken will Wittler klären, wie semantische Andockstellen in biblischen, babylonischen, spanischen, slawischen und anderen „Orienten“ diskurspolitisch und ästhetisch eingesetzt wurden und wie die damit verbundenen Zuschreibungen an archäologische Entdeckungen, wissenschaftliche Paradigmenwechsel und ikonographische Traditionen gebunden waren. Denn während die sogenannten polnischen Juden um 1800 in Berlin Rückständigkeit assoziierten und Abwehr hervorriefen, und die orientalischen Juden in Nordafrika und im Osmanischen Reich infolge der Damaskus-Affaire (1840) und der daraufhin einsetzenden großangelegten Europäisierungsprojektes wurden und Unterstützung von jüdischen Hilfevereinen bekamen, bezogen sich viele deutsche Juden affirmativ auf vergangene Zeiten und Räume wie das antike Israel, das babylonische Exil oder das goldene Zeitalter in Al-Andalus. Das lag unter anderem auch am Aufschwung der historischen Wissenschaften.

In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts – da, wo die Studie einsetzt – bildete sich eine neue Form des historischen Denkens heraus. Dabei veränderten sich auch die taxonomischen, klassifikatorischen und enzyklopädischen Bezugssysteme, mithin auch der Stellenwert und das Verständnis von Tradition. In dieser Neuverortung des Deutschen diskutierten auch die deutschen Juden ihr Selbstverständnis neu. Insgesamt machte sich ein Reformdruck breit, der sich auch im literarischen Traditionsverhalten niederschlug. Dieser schlug sich in unterschiedlichen literarischen Gattungen nieder. Ghettogeschichten ethnographierten die rurale Authentizität galizischer, polnischer und elsässischer Juden, Historienromane verarbeiteten mittelalterliche Stoffe mit einer besonderen Vorliebe für sephardische Themen, und die Lyrik schöpfte vor allem aus der Bibel. Auch in der Sprache gibt es ein Schwanken von Hebräisch, mundartlicher Landessprache und Jiddisch. Die Themen dieser jüdischen Aufklärung, der Hashkala, reichen von der Öffnung der Juden gegenüber der deutschen Kultur, säkularen Themen bis zur Trauer über den Verlust der Tradition und jüdischer Identität. Bei aller inaugurierten Integration in die deutsche okzidentale Kultur geht es aber immer auch um das Durchscheinen der orientalischen Herkunft, Kultur und Geschichte.

Die dunkle Seite der Emanzipation

Die Zuschreibungen eines orientalischen Stiles waren vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie anspielungsreich ist. So war der Musiv-Stil gelehrt, kunstvoll, aber zugleich schwülstig und blumig. Man verwendete Metaphern des Durchschimmerns, der Reflektion und des Glanzes. Setzte man neue Kollektivsymbole wie den Baum und den Strom ein, um die Grenzen zu überwinden, mussten die jüdischen Autoren mit dem Vorwurf der Unentschiedenheit und des Verrates ihrer Tradition umgehen. Das Bild vom Fremden, der seiner Urheimat die Treue hält, aber keine Treue zu dem Land hat, in dem er lebt, blieb für Nationalisten verdächtig. So sehr sich die Juden jener Zeit um Assimilation und Integration bemühten, sie fühlten sich doch oft von keiner Seite akzeptiert. Damit wurde die schwierige Selbstverortung zwischen Orient und Okzident auch zu einem grundlegenden Dilemma des Emanzipationsdiskurses.

Dabei speiste sich der Diskurs aus einem sich rasant veränderten Wissensbestand, der den Blick auf die biblischen Hebräer und ihre Überlieferungen ebenso umwandelte. In diesem oft öffentlich ablaufenden Diskurs in Zeitschriften und Salons durchliefen zum Beispiel die Bibeltexte eine Poetisierung, Historisierung und zugleich Orientalisierung, die sie in ein neues Licht rückten. Die Autoren versuchten sich an neuen Bibel-Übersetzungen und waren so in das Reformprogramm eines jüdischen Traditionsumbaus involviert. Gleichwohl schafften sie es offenbar nicht, auf diese Weise das niederträchtige Bild, das über sie kursierte, auszulöschen oder umzuprägen. Es blieb bei Verteidigungsgesten gegen Ausgrenzungsversuche, Projektionen, Instrumentalisierungen und Funktionalisierungen.

Die Aktualität der Forschung

In Wittlers Rekonstruktionsversuch soll eine Dimension der mehrsprachigen transkulturellen und territorial weitläufigen Komplexität der deutschen Literaturgeschichte erkennbar werden. Sie untersucht, wie Texte durch ihre Form Effekte des Jüdischen und Orientalischen generieren und damit einen ganz eigenen Stil hervorbringen, der auch das Verhältnis von Sprache, Schrift, Typographie und Buchschmuck prägte. Damit entsteht ein Panorama, also ein Totaleindruck auf dieses Phänomen. Ab dem 19. Jahrhundert muss ein Jude eine unauflösbare Aufgabe bewältigen: Er muss – so schreibt schon Hanna Arendt – beweisen, dass er – obwohl er Jude ist, doch kein Jude ist. Der deutsche Orientalismus, so resümiert Wittler, verfährt strukturanalog: Es wird gefordert, dass Juden einerseits ihren orientalischen Ursprung durchschimmern lassen, andererseits aber ihre okzidentalische Bildung beurkunden. Es wird verlangt, dass sie keine Orientalen mehr sind, sondern sich nur orientalisch auf ihren Ursprung beziehen können. Damit wird ihnen eine paradoxe Doppelrolle zugewiesen: zugleich Orientale und Orientalist zu sein.

Das aktuelle Interesse an der historischen Rolle der Juden im Orientalismus des 19. Jahrhunderts ist auch durch die globale Diskursentwicklungen seit der Jahrtausendwende bedingt. Jüdisch-orientalische Korrelationen haben zwar ihre unmittelbare Evidenz verloren. Dafür erlangten sie als historisches Modell im Zeichen der westlichen Auseinandersetzung mit dem Islam und den Re-Orientierungen in Israel sowie der akademischen Globalisierungs- und Säkularisierungskritik eine erhebliche Virulenz. Die Beleuchtung dieses Stückes deutscher und europäischer Geschichte ist umso dringlicher, als sie nicht nur Wissenslücken schließt, sondern zugleich die Möglichkeit beinhalt, eine Haltung zu formen oder zu festigen.

Kathrin Wittler: Morgenländischer Glanz. Eine deutsche jüdische Literaturgeschichte (1750-1850)

Mohr Siebeck, Tübingen 2019

621 Seiten

Hier gelangen Sie zum Podcast des Leipziger Thomasius-Clubs, der am 10. Februar 2021 mit Kathrin Wittler debattierte: www.thomasius-club.de

Zum Online-Shop des Verlags

Weitere Rezensionen in der Reihe Büchersonntag

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.