Vermittler zwischen zwei Denk-Welten

Büchersonntag, Folge 5: Der Berner Islamwissenschaftler Michael Frey bringt der westlichen Philosophie den libanesischen Denker Nassif Nassar und seine Hoffnung auf eine 2. arabische Philosophie-Renaissance näher.

Wer sich ein wenig mit Philosophie auskennt, denkt bei arabischer Philosophie vor allem an Avicenna, Averroes oder Maimonides. Zeitgenössische Philosophen kennt man kaum. Das mag wohl auch daran liegen, dass die arabische Philosophie entweder aus dem Mittelalter stammt oder von religiösen Ansätzen überschattet ist. Um sie genau aus diesem Schattendasein zu befreien, bringt Michael Frey in seinem Buch Liberalismus mit Gemeinsinn dem westlichen Leser den libanesischen Denker Nassif Nassar näher.

Diesem Vorhaben widmet sich der Islamwissenschaftler und Historiker Frey systematisch, indem er zunächst Nassars 18 Texte chronologisch vorstellt und in den libanesischen Kontext ihrer Entstehung einbettet. Dabei kommen dem gewogenen Leser einige Philosopheme bekannt vor, andere wirken eher befremdlich. Und genau dies zeichnet die besondere Denkweise Nassars aus. Sie bedient sich eklektisch aus dem Denksteinbruch der okzidentalen Philosophietradition, um es pragmatisch auf die Situation im Libanon anzuwenden und mit der eigenen Denkweise in pragmatischer Absicht zu verbinden. So kommt es immer wieder im Buch zu Brückenschlägen von Vernunft- und Freiheitsstreben auf der einen Seite mit Gemeinschaftsinteressen und konfessionellen Weltanschauungen auf der anderen Seite. Nassar will diese zwei Tendenzen nicht gegeneinander ausspielen, sondern – wie der Titel des Buches von Frey es bereits betont – eine Verbindung zwischen beiden Seiten herstellen.

Wer ist Nassif Nassar?

Über das Leben von Philosophen sollte man nicht so viel erzählen, denn wichtiger als ihr Leben sollte ihr Denken sein. Doch Nassars Philosophie ist nicht von seinem politischen Engagement zu trennen. Nassar wurde am 3. Dezember 1940 in dem libanesischen Dorf Nabay in eine maronitische Familie hineingeboren. Nach seiner Schulzeit absolvierte er an der Université Libanaise in Beirut ein Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften. 1962 zog es Nassar wie viele andere libanesische Intellektuelle seiner Generation nach Paris, wo er 1967 an der Sorbonne in Philosophie mit einer Arbeit über den mittelalterlichen arabischen Philosophen Ibn Khaldun promoviert wurde. Trotz mehrerer Lehrangebote im Ausland kehrte Nassar in den Libanon zurück, sicher auch weil ihn das intellektuelle Klima nach dem Sechstagekrieg dort mehr reizte als eine westliche Karriere.

Aus dem politischen Tagesgeschäft versuchte sich Nassar – abgesehen von der Bildungspolitik – bewusst herauszuhalten. Er kommentierte und reflektierte das Zeitgeschehen jedoch immer wieder auch in regionalen und panarabischen Tages- und Wochenzeitungen. Für Nassar spielt Religion und Religiosität eine große Rolle, jedoch eher aus sozialwissenschaftlich-philosophischer Sicht. Nassars eigene maronitische, also orientalisch gefärbte christliche Herkunft spielt in der kontextualisierten Werkstudie von Frey jedoch explizit keine Rolle. Vielmehr verweist der Autor ausdrücklich darauf hin, dass westliche religiöse Essentialisierungen und Dichotomisierungen – hier die säkularen Christen, da die religiösen Moslems – nur bedingt zum Verständnis der arabischsprachigen intellektuellen Welt der letzten Jahrzehnte beitragen können.

Denker im Libanon

Der Libanon hat eine bewegte Geschichte. Nacht langem Streit im 19. Jahrhundert, welchem Stamm und welcher Konfession das Land gehört, wurde der Libanon zum Produkt einer imperialistischen Neuordnung des Mittleren Ostens nach dem Ersten Weltkrieg und der Auflösung des Osmanischen Reichs. Schließlich herrschte Frankreich bis 1943 in der „Libanesischen Republik“. Seit den ausgehenden 1950er Jahren herrschte aber vor allem in seiner Hauptstadt eine vorwiegend freiheitliche intellektuelle Atmosphäre, die auch auf Nassif Nassar ausstrahlte.

Bereits im 16. Jahrhundert begannen in dieser Region bestimmte Entwicklungen, die in der Genese des politischen und sozialen Lebens des modernen Libanon ihre Spuren hinterlassen sollten: eine Durchmischung der verschiedenen religiösen Gruppierungen, die Integration in das kapitalistische Weltwirtschaftsgefüge, ein intensiver Kontakt mit europäischer Kultur sowie die Einmischung europäischer Mächte in lokale Angelegenheiten. Die 1926 eingesetzte Verfassung, die zu großen Teilen bis heute in Kraft ist, vertiefte die konfessionelle Zergliederung des Landes zudem weiter. Inzwischen gibt es 19 offiziell anerkannte Konfessionsgemeinschaften in der Konkordanz- oder Konsensdemokratie, die auf einer proportionalen Allokation der Regierungsämter, Verwaltungsposten, Parlamentssitze und hohen Armeefunktionen beruht. Damit werden zugleich soziale Konflikte immer auch konfessionalisiert und in Partikularinteressen umgewandelt. Das verkompliziert gegenwärtige übergreifende Projekte, wie etwa den Aufbau des Landes nach dem libanesischen Bürgerkrieg, der von 1975 bis 1990 andauerte.

Nassars Denken

Nassar stellt sich nun die Frage, wie eine Gesellschaft mit dem Faktum des Pluralismus und den daraus resultierenden divergierenden Weltanschauungs- und Wahrheitsansprüchen umgehen soll, um dauerhaft Stabilität zu finden. Nun versucht Nassar, Begriffe wie Gemeinschaft/Gesellschaft, Ideologie, Toleranz, Freiheit usw. zu überdenken. Kritik übt er dann nicht jeweils am Begriff, sondern eher seiner Erscheinungsform. So kritisiert er am Libanon, dass eine konfessionalistische Gesellschaft alle anderen möglichen Formen sozialer Bindung zurückdrängt und die Entstehung einer wahren libanesischen Gesellschaft verunmöglicht. Sie stellt an ihre Mitglieder totale Ansprüche und torpediert konkurrierende soziale Ansprüche und Autonomie. Damit gerät sie in Konflikt mit anderen Institutionen, die für das Funktionieren einer modernen offenen Gesellschaft notwendig wären, etwa städteplanerischer Aufgaben.

Eine De-Konfessionalisierung und Säkularisierung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie auch Rückhalt in einer neuen epistemischen Ordnung hat, also vernunftbasiert ist. Deshalb fordert Nassar eine wissenschaftliche Kultur, in der das vernünftige-objektive und unpersönliche Denken und Urteilen vorherrscht. Dieses wissenschaftliche Denken dient bei Nassar nicht nur der abstrakten Wahrheitsfindung, sondern hat soziale Relevanz. Für ihn schafft nur wissenschaftliches Denken ein Gleichgewicht zwischen dem individuellen und dem öffentlichen Interesse, weil es eine Wahrnehmung der beiden losgelöst von persönlichen Verbindungen ermöglicht. An die Stelle der politisierten Konfessionsgemeinschaften sollen konfessionell durchmischte politische Parteien treten. Religion soll als individual-moralisches, nicht aber politisches Fundament für säkulare Staatsbürgerlichkeit dienen.

Da für Nassar der Mensch ontologisch frei ist, aber diese Freiheit nicht absolut gesetzt werden sollte, weil sonst jeder gegen jeden seine Freiheit ausleben wollen würde, entwirft Nassar Grundprinzipien, welche die Freiheit flankieren, aber nicht einschränken. Sein avisiertes Ziel ist ein Liberalismus der gegenseitigen gemeinschaftlichen Verantwortung, also ein sozialer resp. solidarischer Liberalismus. Dieser setzt aber voraus, dass die Menschen die Fähigkeit zur Distanzierung von sich selbst lernen und sich von der Heteronomie der partikularen Gemeinschaftsinteressen emanzipieren, in deren Gruppe sie hineingeboren wurden. Dazu gehört vor allem Respekt vor Differenz.

Philosophieunterricht in der Schule

Die Erziehung zum Respekt vor Differenz ist dabei Teil der Erziehung zur Freiheit, also dem Erlernen eines vernünftigen Freiseins. Dabei zieht Nassar neue begriffliche Abgrenzungslinien. Einerseits übt er konfessionelle und metaphysische Ideologiekritik, andererseits enthält Ideologie für ihn nicht nur falsches Bewusstsein, sondern auch Wahres; Toleranz gegenüber Andersartigkeit lehnt er ab, dafür fordert er Respekt; er begrüßt die Errungenschaften der modernen Vernunftphilosophie, will aber ihre Kampfbegriffe nicht übernehmen; die arabische Philosophie hält er fest, weil und insofern sie nicht nur religiöse, sondern Vernünftiges vermittelt. Dabei hält er dem oft selbstgerechten und allwissend erscheinendem westlichen Denken auf erfrischende Weise den Spiegel vor.

Nassars Dialektik der philosophischen Autonomie versteht sich insgesamt aber als ein dialogisches Unterfangen, als ein kritisch-offener Rationalismus, als eine Art ideale Diskursform eines demokratischen Gemeinwesens und als kontextueller Universalismus. Für Nassar ergibt sich daher folgende moralische Verantwortung aus dem Denken: „Ich bin frei, also bin ich verantwortlich.“ Solidarität wird zum moralischen Imperativ. Freiheit hat nicht nur der Staat dem Bürger zu garantieren, sondern jeder einzelne, der für das Zusammenleben im Staat einen Gemeinsinn ausbildet. Und das meint Nassar nicht nur theoretisch, sondern sehr praktisch.

Dem Philosophieunterricht kommt hierbei nämlich eine besondere Rolle zu. Er soll die jungen Menschen nicht nur zu guten Bürgern im Staat erziehen, sondern ebenso zu selbstständigem Denken ermutigen und befähigen. Dazu gehört es, die eigene Tradition der arabischen – und nicht nur der islamischen – Philosophie zu kennen; dazu gehört aber auch, die Denker des Westens zu kennen und sie auch sprachlich einzubeziehen, statt auf Französisch zu behandeln. Mit seinen postulierten Reformvorschlägen für den Philosophieunterricht stellt er nicht nur Aspekte des gegenwärtigen libanesischen Bildungswesens in Frage, sondern die gesamte politische und soziale Ordnung des Libanon. Seine Forderung nach einer „philosophischen Kultur“ die aus den Klassenzimmern heraus entsteht, hat damit – so urteilt der Autor zu Recht – etwas Subversives und Revolutionäres.

Michael Frey: Liberalismus mit Gemeinsinn. Die politische Philosophie Nassif Nassars im libanesischen Kontext

Velbrück Wissenschaft 2019

402 Seiten.

Hier gelangen Sie zum Podcast des Leipziger Thomasius-Clubs, der am 24. März 2021 mit Michael Frey debattierte: www.thomasius-club.de

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