Frei von Kategorien

Büchersonntag, Folge 8: Carolin Wiedemann will das Patriarchat stürzen und mit ihm überkommene Liebesbeziehungen und Geschlechterordnungen. So weit, so utopisch.

2016 wurde dem Grundsatz „Nein heißt Nein“ ein Gesetzesstatus im Sexualstrafrecht beigemessen. 2018 folgte die Einführung der Geschlechtseintragung „divers“, einige Medienhäuser sind seit 2019 zum Gender-Sternchen übergegangen. Doch der Widerstand des Patriarchats gegen seine Überwindung ist groß, behauptet Carolin Wiedemann, Autorin des Buches „Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats“.

Die studierte Journalistin und Soziologin wurde 2016 mit einer Arbeit über „Kritische Kollektivität im Netz“ promoviert. Einige Zeit war sie Redakteurin des Magazins der „Frankfurter Allgemeinen Quaterly“ und Mitarbeiterin des Feuilletons der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Außerdem schreibt sie für das „Missy Magazin“ über Fragen der Kritik und Emanzipation. Seit 2021 ist sie Postdoktorandin in der Abteilung „Integration, soziale Netzwerke und kulturelle Lebensstile“ am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität Berlin.

Wiedemann ist der Überzeugung, dass sich an der Frage nach Geschlechtern, Identitäten sowie Begehrens- und Beziehungsformen zeigt, wie frei und gerecht eine Gesellschaft tatsächlich ist. Gegen jene, die die Gender-Theorie oder queere Aktionen als über das Ziel hinaus geschossene irrelevante, elitäre Unterfangen diffamieren, will sie entgegenhalten, dass eine solche Haltung ins Populistische tendiert und den Rechten und Nationalisten in die Hände spielt. Im Antifeminismus zeigt nämlich das Aufbegehren eines patriarchalen Systems und seiner Hauptfigur, des weißen, heterosexuellen cis-Mannes, dessen hegemoniale Ordnung bröckelt. Und das, so die Autorin, geschieht zum Glück aller. Denn die Befreiung vom Patriarchat ist nicht nur eine Befreiung von queeren Menschen und Frauen aus ihrer Unsichtbarkeit und Unterdrückung, sondern auch Männern aus ihren festen Normierungen. So weit, so gut.

Postromantische Liebe jenseits der bürgerlichen Kleinfamilie

Carolin Wiedemann geht – zunächst recht abstrakt – von der These aus, dass es Zeit ist, das System der Herrschaft sukzessive zu unterwandern, damit Menschen neue Beziehungs- und Lebensweisen schaffen können, die statt Konkurrenz Nähe fördern. Damit rückt sie ins Intimste vor. Vor Augen hat sie freiere Beziehungsmodelle als das allgemein normative bürgerliche Modell der Kleinfamilie: Fürsorgenetzwerke, Wohngemeinschaften, Polyamorösität. Sogar Begriffe werden eingeführt für z.B. die Person, die Samen spendet, aber keine Elternrolle für ein Kind übernehmen will: Sponkel, und ein queeres Elternteil „Mapa“. Die Vielfalt der Lebensformen unterwandert die staatlich unterstützten Steuer- und Lebensmodelle.

Offene, freie Liebes- und Lebensmodelle sollen der Garant dafür sein, dass nicht nur die Gesellschaft besser wird, sondern auch der Sex schöner, so die Autorin. Beziehungen ohne Besitzansprüche, ohne Einengung, ohne Normierung und offen für Neues, Anderes. Eine steile These, in der die Polyamorösität sicher eine für viele verlockende, dann aber dann doch eher naive Vorstellung eines Ausweges aus gegenwärtigen Problemlagen bieten soll. Denn es ist nicht erkennbar, dass mit der Zunahme von Beziehungen deren Konfliktpotenzial kleiner werden soll. Das Gegenteil ist wohl eher der Fall, jedenfalls soweit sich Menschen nicht generell ändern. So weit, so wenig überzeugend.

Patriarchatskritik und Postfeminismus

Das Patriarchat muss nach Wiedemann aber vor allem auch abgeschafft werden, weil es ein Ordnungssystem ist, das auf dem Glauben beruht, Menschen seien von Natur aus und schon vor der Geburt in Männer und Frauen unterschieden, denen jeweils bestimmte Eigenschaften eigen sind. Die damit verbundene Norm vermittelt ein binäres, hetero- und cis-normatives Geschlechterverhältnis, das lange Zeit verinnerlicht und zementiert wurde. Entstanden ist ein System der Hegemonie der einen vor den anderen, der Männer vor den Frauen, der Normierenden und der Abgewerteten. Dies konnte auch von unterschiedlichen Stoßrichtungen des Feminismus bisher nicht geändert werden.

Nach wie vor gilt die heterosexuelle Normative, dass Frauen gefallen sollen und fürs Häusliche zuständig sind, Männer hingegen für Geld und öffentliche Strukturentscheidungen. Das sorgt nach wie vor für ein eklatantes Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Einiges hat sich in den letzten 100 Jahren zwar schon getan, vom Frauenwahlrecht über das Recht auf Bildung und Karriere. Aber im Schnitt verdienen Frauen in Deutschland immer noch 20% weniger als Männer, verrichten darüber hinaus aber im Schnitt täglich 87 Minuten, also fast 1,5 Stunden, mehr Care-Arbeit, kümmern sich also um die Kinder und die Hausarbeit. Frauen machen weniger Karriere und sind von Altersarmut wegen des geringeren Verdienstes und der geringeren Arbeitszeiten um 50% mehr betroffen als Männer. Zudem sind sie fast immer die Opfer von häuslicher Gewalt: Täglich versucht ein Mann in Deutschland, eine Frau zu töten. Jeden 3. Tag wird eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. So weit, so unglaublich.

Queerfeminismus und geschlechtlich Kategorisierung

Queerfeministen verbindet der Kampf gegen solche Abwertungen. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Menschen zu ihrem Unmut mit der zugeschriebenen Geschlechtsidentität bekannt. Die progressiven Naturwissenschaften, allen voran die Medizin, halten inzwischen nicht mehr an der Idee einer körperlichen Essenz von Männlichkeit und Weiblichkeit fest, meint Wiedemann. Damit ist gemeint, dass nicht mehr – wie ehedem – Menschen nach der Geburt auf ein Geschlecht festgelegt werden. So bleiben auch bestimmte sog. „Geschlechtsanpassungen“ aus. Das Bewusstsein für die Folgeprobleme von Geschlechtsanpassungen, vor allem auch ungewollte, hat ebenso zugenommen wie der Wunsch, sich selbst eine Wunschidentität zu verleihen. Und das ist gut so!

Weil aber die biologischen Unterschiede von Geschlechtern dabei immer schon sozial vermittelt werden und die Zuschreibungen nie neutral aufgefasst werden, erhalten lesbische Frauen und Menschen, die sich nicht eindeutig als Mann oder Frau zuordnen lassen (wollen), weniger Handlungsspielraum als heterosexuelle cis-Frauen oder gar cis-Männer, worauf bereits Judith Butler verwies. Allerdings lässt sich daraus nicht ableiten, dass es ein „drittes“ Geschlecht gibt. Vielmehr ist richtig, dass es weiterhin weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale gibt, wovon man logischerweise keines von beiden, beide oder eines von beiden mehr oder weniger ausgeprägt haben kann. Und die Zuordnung dieser vier Möglichkeiten reicht vom Chromosomensatz über innere und äußere Geschlechtsmerkmale bis hin zu Hormonen und einem Identitätsgefühl. Eine Zuschreibung „divers“ meint also kein drittes mögliches Geschlecht, sondern entweder die Nichtfestlegung oder aber die Betonung der Spannbreite zwischen Männlich und Weiblich. So weit, so fakt. Fakt ist aber ebenso, dass in der Medizin momentan erst einmal wahrgenommen wird, dass es unterschiedliche Symptome für die gleichen Krankheiten gibt, etwa bei Herzinfarkten. Eine Beibehaltung von geschlechtsspezifischen Zuschreibungen könnte daher sogar Leben retten.

Antifeministische Mobilisierungen

Die neueste feministische Patriarchatskritik, bestärkt durch die globale #MeToo-Bewegung, ist nun für einige der Grund, sich um den Zustand der Männerherrschaft zu sorgen und eine antifeministische Bewegungen zu mobilisieren. In Internetforen wird sich ausgetauscht über die vermeintliche Benachteiligung von Männern, darüber, dass sich die vom Sockel gestoßenen Männer nun zu einem Männeraufbruch zusammenfinden. Das ist Wasser auf die Mühlen der Neuen Rechten, die dem neuen Antifeminismus Heimat bietet, findet Wiedemann. Weil Frauen in der Regel auch anders wählen als Männer, fordern die Männergrüppler daher eine Art „White Sharia“. Sie wollen, dass Frauen wieder den Status haben wie im 19. Jahrhundert. Hier treffen sich die Maskulinisten inhaltlich mit tradierten islamistischen Vertretern, für die sie sonst nur Ressentiments übrig haben.

Ein Antifeminismus hat demzufolge auch immense politische Konsequenzen: Die binäre Ordnung von „Herr und Knecht“ im Antifeminismus setzt sich für Wiedemann auch in den Herrschaftsverhältnissen des Rassismus und Antisemitismus fort, die ähnlichen Legitimationsmuster folgen wie etwa die rassistische Abwertung von Menschen. Bewegungen gegen Grenzregime wie gegen die Ausbeutung von Rohstoffen und Land, gegen den politischen Rechtsruck und den Kapitalismus verstehen sich daher als Teil queerfeministischer Bestrebungen und andersherum. Diese gegenwärtige Entwicklung ist auch deshalb so gefährlich, weil der neue Antifeminismus für die traditionelle Familie als Scharnier zwischen rechtem Rand und gesellschaftlicher Mitte fungiert. So weit, so problematisch.

Globale Aufklärung und Widerstand

Die globale queerfeministische Bewegung bringt das Konzept des bürgerlichen Subjekts weltweit zunehmend ins Wanken. Deshalb ist es um so wichtiger, sensibel für die kleinen Rassismen und Sexismen zu werden, auch für die eigenen, unbewussten Alltagsrassismen. Die neuen Ansätze fordern die alte Kategorisierung von Mann und Frau heraus, ebenso wie die von Körper und Geist wie auch der Binarität von Kultur und Natur. Daraus folgt aber nicht, dass man alle Kategorisierungen aufweichen sollte. Richtig ist, dass man den Menschen sehen sollte, unabhängig vom Geschlecht, Hautfarbe oder gesellschaftlicher Position.

Eine Antwort bleibt uns die Autorin am Ende ihres Buches schuldig, wie ein Leben mit diesen anderen Scharfstellungen aussehen kann. Stattdessen schiebt sie im letzten Absatz des Buches nach, dass es ihr nicht darum geht, alle Kategorien in postmoderne Beliebigkeit aufzulösen und das Chaos zu feiern. Sie will vielmehr mit ihrem Buch die Chance ergreifen, die in der Hinterfragung gedanklicher und räumlicher Ordnungen liegt. Ihr geht es lediglich darum, sich gemeinsam der Möglichkeiten bewusst zu werden, Dinge anders, neu zu ordnen und nicht als unumstößlich gegeben hinzunehmen. So weit, so mutig.

Illusion und Wirklichkeit: Besserer Sex für alle

Die sexuelle Befreiung der Frauen und Queers und deren gesellschaftliche Reichweite zeigt für die Autorin das Interesse der Menschen, vermeintliche Körpergrenzen zu überschreiten, sich in Verbindung zu erfahren, „berührt zu sein statt autonom“. Für Wiedemann sind Menschen nicht determiniert, vielmehr haben sie Spielräume und tragen deshalb auch Verantwortung für das, was sie sein wollen. Die Abgeschlossenheit des patriarchalen Subjekts führte in private und öffentliche Zustände, wie wir sie heute weltweit haben. Diese Strukturen, die weltweit herrschen, sollen dort aufgesprengt werden, wo sie am tiefsten sitzen, nämlich in unseren Vorstellungen, wie die Dinge zu sein haben.

Wiedemann will das Patriarchat stürzen, damit alle frei sein können. Dies will sie, indem sie die Beziehungen, die Menschen eingehen, befreit: von Ängsten, von Neid, von Abwertung, von Unterwerfung, von Ungleichheit, von Ungerechtigkeit, von Benachteiligung, von Aggression und Gewalt, von einem Gegeneinander usw. Doch klingt vieles davon bei Wiedemann wie ein ferner Traum, der leider wenig mir der Realität zu tun hat. Ein nicht verdinglichendes, nicht vergegenständlichendes Denken muss zuallererst noch ausbuchstabiert werden.

Carolin Wiedemanns Buch ist daher eher als Streitschrift denn als wissenschaftliche Abhandlung zu betrachten. Junge Menschen werden das Buch mit Begeisterung lesen, ältere hingegen werden sich nicht mitgenommen fühlen und ggf. keinen rechten Zugang dazu finden. Konkrete und praktische Vorschläge fehlen oder erweisen sich schon beim Lesen als naiv und nicht praktikabel. So wartet man vergeblich auf Vorschläge etwa zur Änderung des Adoptions-, Erb- oder Steuerrecht, zu nicht entfremdeter Arbeit oder den Umgang mit Menschen, die sich den Regeln einer herrschaftsfreien Kommunikation entziehen. Begriffliche Unterscheidungen, etwa zwischen Sex und Liebe, bleiben unklar. Es stellt sich die Frage, wem nützt dieses Büchlein? An eine Analyse und Veränderung der Verhältnisse wie der großer Feministinnen reicht es nicht heran. Sein Nutzen liegt vor allem im Bereich der Selbstvergewisserung.

Carolin Wiedemann: Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats

Matthes und Seitz Berlin 2021

218 Seiten

Quelle: Gewalt gegen Frauen: Mehr Femizide in Deutschland | Deutschland | DW | 25.11.2020

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