Die Resignation der Taxifahrerin

Büchersonntag, Folge 9: Mit „Arbeit und Melancholie“ legt Nera Vöing eine lesenswerte komparatistische Studie vor

Hannah Arendt sprach Ende der 50er-Jahre davon, dass sich die Arbeitsgesellschaft in ihrem letzten Stadium in einer tödlichen und sterilen Passivität des Funktionierens zeigt. Der Mensch wird zu einem „animal laborans“, eines sich über Arbeit definierenden Wesens, ganz im Sinne von Max Webers protestantischer Ethik. Dieses Laborieren buchstabiert die junge Wissenschaftlerin Nerea Vöing in ihrem Buch Melancholie und Arbeit noch einmal neu aus und bezieht es auf die sich geänderten Arbeitssituationen. Dabei lotet sie das Wort „laborieren“ in seinem doppelten Sinne voll aus: als „arbeiten“ und als „leiden“. So ist es nicht verwunderlich – und darin ist die Schlussthese bereits vorweggenommen -, dass der Mensch als ein solches Wesen definiert wird, das am Ende an seinen selbst geschaffenen Institutionen und Dingen leiden.

Selbstfindung in der Arbeit

Im Unterschied zur fordistischen Zeit, die gekennzeichnet war durch eine arbeitsteilige, rationalisierte Massenproduktion, die eine relative Lohnhöhe, lange Betriebszugehörigkeit sowie Maßnahmen zur sozialen Absicherung gekennzeichnet war, bekommt in den Zeiten des Postfordismus ab den 1970er-Jahren die Arbeitsgesellschaft – nach Vöing – ein anderes Gesicht. Hier wird der Arbeitsplatz hauptsächlich von der New Economy und des New Capitalism geprägt, die v.a. mit einer Verlagerung der Verantwortlichkeiten verbunden ist. Nun ist Eigeninitiative und ein hohes Maß an Identifikation mit der Arbeit gefragt. Suggeriert wird, dass Arbeit der menschlichen Selbstverwirklichung nicht mehr entgegenstehe, sondern der Mensch in der Arbeit – nicht mehr zu Gott wie in der protestantischen Arbeitsethik, sondern ganz zu sich selbst finde.

Der Imperativ der postfordistischen Arbeitsethik, die nun auf den ganzen Menschen, also auch auf sein Innenleben, abzielt, hebt nun noch stärker darauf ab, dass es in der Hand des Einzelnen liege, was aus ihm wird. Mit Schlagworten wie Selbst-Organisation, Selbst-Ökonomisierung, Selbst-Bildung, Selbst-Motivation, Selbst-Kontrolle oder Selbst-Rationalisierung entspinnt sich ein Konstrukt zwischen imaginierter Selbstentfaltung und realer Selbstentfremdung. Ein Scheitern in der Arbeit bzw. ein Stranden in der Arbeitslosigkeit wird als Zeichen für das Scheitern des Selbst wahrgenommen. Somit werden Konflikte inkorporiert, deren Ursachen nicht allein im Selbst zu suchen sind, sondern in der Arbeitsgesellschaft und ihren kapitalistischen Ansprüchen an das Individuum.

Melancholie und Veränderung

Die Melancholie, so Vöing, ist nun eine Antwort auf die Anforderungen des neuzeitlichen Arbeitsindividuums. Sie hat ihre Hochzeiten – so ein historisches Resümee der Autorin – immer an gesellschaftlichen Wendepunkten erfahren. Damit wurde sie zum Gestus einer überforderten „conditio humana“, die vor den Ansprüchen an den Menschen kapituliert. Sie fungiert als Vehikel, um Verlustgefühle, diffuse Ängste, Orientierungs- und Hilflosigkeit angesichts einer sich verändernden Welt auszudrücken. Dies trifft auch auf die Arbeitswelt des 20. und 21. Jahrhunderts zu. Damit wird die existenzielle Melancholie, vor dem Hintergrund einer zunehmend als entzaubert und entleert wahrgenommenen Lebenswelt, zum Epochensignum der ausgehenden Moderne. Im 20. Jahrhundert erhält sie noch eine Verstärkung durch Entfremdungsgefühle und Zeitkritik vor dem Eindruck, dass das fortschrittsgläubige Projekt der Moderne gescheitert ist. Mit dem Ende der UdSSR und DDR kam nun noch das Ende von Utopien hinzu und der Triumph des Kapitalismus über alternative Gesellschaftsmodell.

Heutzutage ist die Krise permanent, auch die der dynamischen Arbeitswelt. Es gilt, sie zu managen: Misserfolge gilt es nicht zu betrauern, sondern kleinzuhalten und wegzuinterpretieren; Konflikte werden nicht offen auszutragen, sondern zu Kompromissen verwandelt. Es gibt keinen Raum mehr für gesellschaftliche Visionen; und der Sinn des Lebens besteht – wenn es hochkommt, noch im Geld verdienen, amüsieren und reproduzieren. Eine eigentümliche Ermüdung von Handlungsschwung inmitten eines historisch exorbitanten Niveaus von Potenzialität macht sich breit. Es existiert ein Zuviel im Sinne von unbegrenzten Möglichkeiten, die nicht ergriffen werden, gegenüber einer Handlungshemmung im Stile der Melancholie, eines Leistungsdrucks bis in die Freizeit und in die individuellen Körper und Psychen hinein. Aber in solchen Konstellationen kann man dem Müßiggänger auch zum Systemrebellen stilisieren.

Arbeit und Melancholie in der Literatur

In Romanen zeigen sich solche inkorporierten Arbeitsverhältnisse oft in Form seltsamer leerer Helden oder Antihelden, so die Komparatistin Vöing. Die Protagonisten drohen sich in einer befremdenden, der produktiven Aneignung entzogenen Lebenswelt zu verlieren und werden von den Bedingungen der Arbeitswelt in eine essenzielle Passivität gedrängt. Die literarischen Texte, die Vöing vergleicht, sollen jedoch nicht nur als Depressions-Narrative verstanden werden. Die Helden sind weniger depressiv als resigniert. Sie sind melancholisch, weil das Versprechen, in der Arbeit zu sich selbst zu kommen, sich selbst auffrisst.

Dabei ist das Thema nicht neu: Galt in der Antike noch ein gestörtes Verhältnis der Säfte im Körper und im Mittelalter die teuflische Versuchung als Auslöser der Melancholie, so ist es in der Moderne das Sein selbst, das die Leiden an der eigenen Existenz ausmacht und in die Schwermut und in die Trübsinnigkeit führt. An Beispielen mangelt es in der Literatur nicht. Vöing nimmt nur einige aus den letzten Jahrzehnten heraus: Sei es Wilhelm Genazinos Angestellte, Karen Duves Taxifahrerin, Lars Gustafssons Fliesenleger, Frédéric Beigbeders Werber oder Terézia Moras Salesmanager, sie alle werden als erschöpfte bis verzweifelte Figuren gezeichnet. Sie verkörpern mit ihrer Lebenseinstellung auch eine Kritik an den veränderten Anforderungen der Arbeitsgesellschaft.

Ambivalenz von Arbeit und Melancholie

Anfangs bilden Arbeit und Melancholie noch ein Gegensatzpaar: Während die Arbeit in ihrem Kern ein aktiver Inhalt zu eigen ist, ist die Melancholie ihr Gegenteil, passiv, beobachtend. Doch über die komparatistische Analyse verlieren die scheinbar kontrastiven Begriffe ihre Ferne und rücken immer näher zusammen, bis sie verschmelzen. Ein Buch, das einen anderen Blick auf die gegenwärtige Arbeitswelt gewährt. Mit dieser Perspektive lässt sich auch manche zeitgenössische Literatur mit ihren Antihelden besser einordnen. Wer kennt sie nicht aus dem eigenen Freundeskreis, Leute, die ähnliche Geschichten parat haben: Depression und Burnout neben unverschämten Narzissten, Selbstaufgabe bis zur totalen Erschöpfung. Solche und ähnliche Erscheinungen sind Folgeprobleme spezifisch postmoderner Erwerbsarbeit. Ihre Infiltrierungsbestrebungen sollte man sich bewusst machen im Namen der conditio humana: menschlicher Autonomie.

Nerea Vöing: Arbeit und Melancholie

transcript Verlag Bielefeld 2019

377 Seiten

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