Zerbrechlichkeit als Signum zeitgenössischer Kunst

Büchersonntag, Folge 10: Der Leipziger Literaturwissenschaftler Dieter Burdorf geht der Frage nach, warum das Fragile des Fragmentes die künstlerische Faszination besonders weckt

In seinem Essay „Zerbrechlichkeit. Über Fragmente in der Literatur“ fragt sich der Autor, was es ist, das uns fasziniert, wenn wir z.B. die bruchstückhaften Gedichte der antiken Lyrikerin Sapphos lesen, welche zwiespältigen Gefühle die Betrachtung von Torsi und Ruinen in uns hervorrufen, was den spezifischen ästhetischen Reiz und die Anziehung ausmachen, die von künstlerischen Fragmenten ausgehen. Seine Antwort ist kurz, aber tief gedacht: Es ist die Zerbrechlichkeit der vom Menschen geschaffenen Dinge, die zugleich die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens vor Augen führt. Das heißt, mit jedem fragmentierten Artefakt werden wir Menschen mit unserer eigenen Fragilität konfrontiert. Dieses Zurückgeworfensein auf sich selbst ist zugleich eine Konfrontation mit der alles zermalmenden Zeit und einer nur begrenzten dinglichen Widerständigkeit.

Das Fragment

Das Fragment soll bei Burdorf als Oberbegriff für alle unvollständigen Werke angesehen werden. Dabei ist zunächst noch unklar, ob es sich um eine Unvollendetheit, einen absichtsvollen oder zufälligen Abbruch der Dingproduktion handelt. Dabei ist Nichtvollendung gerade nicht fehlende Vollkommenheit. Sie ist kein Makel, sondern geradezu ein ästhetisches Prinzip.

Für das Zerbrechen ist v.a. die Härte und Widerständigkeit des Gegenstandes oder Körpers charakteristisch. Diese Härte korreliert bei bestimmten Materialien mit einer besonderen Empfindlichkeit. Diese Gegenstände bersten, gehen kaputt. Andere sind vulnerabel, verletzlich, angreifbar. So wie der Mensch, ja sogar Gruppen oder Gesellschaften. Judith Butler bereichert die Debatte um das Fragmentarische sogar mit dem Begriff der „Betrauerbarkeit“.

Fragmente führen uns die Unvollkommenheit und Vergänglichkeit aller schriftlichen Tradition und damit unserer gesamten Erinnerungskultur vor Augen. Dagegen ist in den performativen Künsten die Möglichkeit der Zerbrechlichkeit nicht primär in den Artefakten, sondern in der Künstlerpersönlichkeit selbst angesiedelt. Es gibt ebenso fragmentarische Zeichnungen und Bilder wie fragmentarische Mosaike, Vasen oder Roman-, Gedicht- oder Dramenfragmente.

Das Fragment und die Vorstellung vom Ganzen

Die Kategorie der Zerbrechlichkeit steht aber niemals für sich allein. Sie ist vielmehr auf das Ideal der Unversehrtheit bezogen. Allerdings verfehlt sie gerade dieses Ideal. Von einem Fragment lässt sich daher sinnvollerweise nur reden, wenn man mindestens eine implizite Vorstellung von einer Ganzheit hat. Dies wäre dann das Werk, manchmal auch das Gesamtwerk, je nachdem welches Teil als Ganzes fungieren soll.

Fragment und Totalität bilden eine Korrelation. Man kann nicht über das eine ohne das andere sprechen. Denn das Fragment bezeichnet den anwesenden Teil eines abwesenden Ganzen, das logisch vorausgesetzt wird, aber ebenso wenig als ewige friedliche Harmonie unhinterfragbar ist. Das Fragment ist daher zugleich als Nicht-Werk anzusprechen. Als Nicht-Ganzes kann es sowohl ein Verfehlen von Ganzheit ausdrücken wie einen Verlust derselben.

Der Reiz des Fragmentarischen

Leitmotiv von Burdorfs Essay ist die Beobachtung, dass Fragmentarisches auf Betrachter oder Leser oft einen intensiveren Reiz ausüben als vollständige Werke. In der Kunst sind es vor allem die Ruine und der Torso, die durch die Unvollständigkeit des Werkes einen besonderen Reiz auf den Betrachtenden ausüben. Dabei steht die Ruine für den beschädigten Lebensraum von Menschen und der Torso für den beschädigten Körper. Das Fragment ist demgegenüber ein übergreifender Begriff, der sich nicht nur auf Kunstgegenstände, sondern ebenso auf Schiffs- oder Autowracks kaprizieren lässt.

Bei der Beschreibung des ästhetischen Zustandes, der uns beim Erblicken eines Fragmentes überkommt, nutzen wir dann physiologische Beschreibungen, etwa der Zerbrechlichkeit und der Verletzlichkeit, wohlweißlich, dass es sich auch um ein seelisches Phänomen beziehen kann. Als Versprechen oder Verheißung von Ganzheit manifestiert sich für Burdorf im Fragmentarischen eine poetische Machtlosigkeit und ästhetische Melancholie. Es bewahrt die Wahrheit und Intensität einer künstlerischen Intensität, die über die historisch-reale Welt hinausgeht. Damit wird das Fragment enttäuschungsresistenter als sein das weltliche Sosein.

Das Fragmentarische in der Literatur

Nicht nur das Ruinöse des Bauwerks oder das Torsische einer Figur verweisen auf die Wunden, die dem Menschen geschlagen werden. Auch in der Literatur mischt sich der Eindruck makelloser Schönheit mit der Empfindung melancholischen Mitleids und erregt uns. Als Verdichtung ruht das Fragment in sich selbst und verheißt etwas durch Andeutung. Denn Gedanken sind nur Brocken, Wissen nur Stückwerk. Echte Fragmente tragen das Moment der Tragik, der Trauer über Zerbrochenes und Verlorenes oder des Scheiterns in sich. Dieses Bedauern führt uns die Zerbrechlichkeit aller Kulturgüter und jedes Lebens vor Augen.

Das Fragment lässt sich dabei nicht nur abgrenzen vom Ganzen oder Vollständigen, das heutzutage nur noch unter bestimmten Voraussetzungen das Vollkommene ist, sondern auch vom Benachbarten, etwa der Skizze, Aufzeichnung, der Notiz, der Marginalie, dem Palimpsest, dem Entwurf, dem Apophthegma, der Sentenz, Collage, Montage, Cento oder auch dem Aphorismus. Der Aphorismus ist sogar das Gegenteil des Fragments, denn seine Pointe liegt im letzten Wort, das sich das Fragment versagt. Neben Georg Büchners Woyzeck, einem Text, der Dichter bei seinem frühen Tod 1837 hinterließ und der aus etwa 25 meist kurzen Szenen besteht, deren Reihenfolge nicht zweifelsfrei feststeht.

Auch in der Erzählliteratur gibt es berühmte Fragmente: Frans Kafkas zur Vernichtung vorgesehene Romane, Robert Musils Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften oder Ingeborg Bachmanns Erzählprojekte ihrer letzten 20 Jahre. Dazu gehören ebenso die Sudelbücher Georg Christoph Lichtenbergs oder die Cahiers Paul Valérys genauso wie Rilkes Sonette. Besonders viel Fragmentarisches findet sich bei den sog. Romantikern Novalis oder Friedrich Schlegel.

Heute wird das Fragmentarische oft als Signum einer modernen Welt genommen. Allerdings ist immer erst zu prüfen, ob es sich tatsächlich um ein Fragment oder aber eher um ein Fragment-Simulat handelt. Denn gerade bei intendierten Fragmenten fasziniert oft eher die Virtuosität des Künstlers als dass sich Bedauern einstellt. Insofern sind die Fragmente der Romantiker meist gar keine echten Fragmente, sondern Aphorismen, sei die Stimme des Autors noch so zart und zerbrechlich.

Der Mensch, das zerbrechliche Wesen

Man kann, wie Goethe, daran glauben, mit Kosmopolitismus einem neuen Kunstkörper zur Geburt verhelfen, oder aber, wie die Griechen und Römer, im Fragment zugleich die eigene Vergänglichkeit aufblitzen sehen. Man kann sich dem Nihilismus hingeben oder im Fatalismus aufgehen oder zeitlebens nach unerschrockener Gelassenheit streben. Oder aber man versucht die zwei Aspekte des Tragischen: den des éleos (Mitleid, Jammer, Rührung, erbarmen) und den des phóbos /Furcht, Schaudern, Schrecken, Grauen) durch kátharsis (Reinigung, Läuterung) stellvertretend für das eigene Erleben ästhetisch aufzulösen.

Burdorfs Essay, damit selbst ein Fragment ohne Anspruch auf das Sagen letzter Wahrheiten, bleibt bewusst indifferent. Er spürt an vielen historischen und zeitgenössischen Beispielen und Autoren nach, worauf das Fragmentarische verweist: auf die Anmutung von Ewigkeit, die Banalität des Bösen, auf Gefühle globaler Verantwortlichkeit und die Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit aller von Menschen geschaffenen Dinge und des Menschgeschlechts selbst. Ein Buch, so fragil wie unser Erdendasein.

Dieter Burdorf: Zerbrechlichkeit. Über Fragmente in der Literatur

Wallstein-Verlag 2020

136 Seiten

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