Ein etwas längeres Geburtstagsständchen

Büchersonntag, Folge 12: Jens Bisky schreibt die 500-jährige Geschichte Berlins aus der Gegenwartsperspektive und hebt auf ihre Lebendigkeit ab

In seinem knapp 1000-seitigen Buch über Berlin, das Januar 2022 bereits in 7. Auflage erschienen ist, will der Autor und Journalist Jens Bisky die Geschichte der letzten 500 Jahre nicht nur als deutsche, sondern als europäische Geschichte aufscheinen lassen. Das ist ihm im Großen und Ganzen gelungen. Der studierte Kulturwissenschaftler und Germanist arbeitet durchgängige Charakteristika Berlins als rote Fäden heraus. Untermauert wird dessen architekturästhetisches Faible darüber hinaus mit Fotos und gezeichneten Stadtplänen. Bisky beschreibt, wie eine Stadt geplant wird, die einerseits ganz auf das preußische Militär mit einem stehenden Heer nach oranischem Vorbild zugeschnitten wird, zeitgleich aber auch die angenehme Seite der Verholländerung vorangetrieben wird mit Gärten und Alleen. Insgesamt erkennt Bisky drei Muster in der 500-jährigen Berliner Geschichte: Erstens den Gegensatz zwischen der Pracht der preußisch-brandenburgischen Residenz und der städtischen Ohnmacht, zweitens die herausgehobene Rolle der Zuwanderer und drittens die Imitation auswärtiger Vorbilder. Hier liegen für Bisky die Anfänge der Berliner Traditionslosigkeit, das Nichtfestgelegtsein und die Buntheit der Bevölkerung, die damit keine Folgen der Industrialisierung, des explosionsartigen Wachstums im späten 19. Jahrhunderts sind, sondern sich schon im Zusammentreffen von innerer Schwäche und obrigkeitlich verordnetem Neubeginn nach 1648 zu suchen sind.

Berlins Weltoffenheit

Bisky beschreibt, wie sich nach dem Dreißigjährigen Krieg das Leben verteuerte, aber gleichzeitig die zugezogenen Handwerker und Kaufleute Geld in die lokale Wirtschaft spülten. Fremde waren willkommen, Verfolgte wie die Juden aus Wien oder die Hugenotten aus Frankreich wurden gern aufgenommen. Zwar weckten die Zuwanderer auch Neid und Konkurrenzängste, aber die Stadtbewohner profitierten in erster Linie vom Kontakt mit anderen Sitten, Essegewohnheiten und Bräuchen. Vor allem weckten aber die Intellektuellen, Dichter und Künstler das Interesse. Zeitweise brauchte die Stadt als Zentrum der Künste und Wissenschaften einen Vergleich mit Rom oder Paris nicht scheuen. Es wurden gelehrte Gesprächsrunden veranstaltet, Bibliotheken und eine Societät der Wissenschaft gegründet, eine Sternwarte eröffnet, Antikensammlungen entstanden usw. Die „Berliner Klassik“ mit ihrer reichen Großstadtkultur, so arbeitet Bisky heraus, war modern; sie war flüchtig, exzentrisch, hochmobil und augenblicksbezogen mit einem Schuss Autonomie- und Gleichheitsbestreben. An jeder Ecke entstand Neues.

Überspanntheit und Dauerbaustelle

Spätestens unter dem Ehrgeiz des „Schiefen Fritz“ wurde Berlin zu einer Dauerbaustelle. Das holländische Vorbild verblasste zwar angesichts der Orientierung an Frankreich, aber die Vielzahl der Schlösser beförderte zugleich auch die spätere polyzentrische Entwicklung der Stadt, lässt uns Bisky wissen. Mit der Industrialisierung entstanden Villenviertel im Westen und Süden sowie proletarische Mietshäuser im Osten und Norden. Pauperisierung und frühproletarische Lebensverhältnisse nahmen zu, Mietskasernen wurden errichtet, in denen unterschiedliche Stände auf engem Terrain friedlich zusammenlebten. Der spätere Bevölkerungszuwachs erfordert immer neue Wege und Umgangsformen. Die Großstadt verlangt starke Anpassungsleistungen, konformes Verhalten, Strategien der Distanzierung, Stresskompetenz, Reaktionsschnelligkeit, Konfliktvermeidungsideen, Schlagfertigkeit und Ventile. Im 20. Jahrhundert dann muss der Magistrat einige Male von vorn beginnen, weil die Landespolitik in ihrem bornierten Größenwahn und Filz die ganze Stadt in den Abgrund zu ziehen droht. Mit diesem und neuem Schlamassel schlägt sich die inzwischen wieder Hauptstadt Berlin auch heute noch herum. Aber genau diese Mischung von Schnoddrigkeit, demonstrativer Unbeeindruckbarkeit und verbaler Aggressivität unterscheiden den Berliner von allen anderen Deutschen, aber auch vom Römer und Pariser bis heute bis hinein in die Sprache.

Babylon Berlin

Die Berliner sind ein buntes Völkchen und Berlin ein Ort, an dem jeder seinen Platz finden muss, aber auch keiner wirklich ausgeschlossen wird. Für Rheinländer wurde Berlin die Stadt des Preußentums, für Fromme hingegen ein modernes Babel, für Spießer ein Brandkessel des Radikalismus, ein Sündenpfuhl des Unmoralischen. „Parvenüs“ nennt Bisky die Emporkömmlinge, die in Großstädten ihr Glück machen, die zu laut, zu unmanierlich und kulturlos, zu ungebildet und grob, zu großspurig und beflissen sind, um vergessen zu machen, dass sie doch nicht zur Oberschicht gehören. Berlin bot seit Mitte des 19. Jahrhunderts alles: von der Zwölfzimmerwohnung am Ku’damm bis zur Kellerwohnung im Wedding, Massenamüsement im Lunapark oder im Plänterwald, Spelunken und Sehenswürdigkeiten, Warenhäuser und Kietze, Reklame, zahlreiche Museen, ein Berliner Strandleben, Technik und Sportvereine, große Gleichmacherei und politische Distanzierung. In Berlin treffen die Gegensätze aufeinander wie sonst nirgends in Deutschland. Zum Beispiel wird Homosexualität und freie Liebe früher toleriert und gelebt als anderswo. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Westberliner und Ostberliner

Berlin war seit Anfang an geteilt in Berlin und Cölln. Aber beide Teile lebten immer friedlich miteinander – bis zum Mauerbau 1961. In der Zeit des Eisernen Vorhangs lebten interessanterweise beide Teilstädte über ihre Verhältnisse und gelangten an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit dank umfassender Bauprogramme. Westberlin verbaute Gelder aus der Bundesrepublik und brachte einen Bausumpf hervor, einen Filz aus Unternehmen, Architekten und Politikern, die in schöner Regelmäßigkeit Skandale produzierten. Im Osten entstanden Neubau-Wohnsiedlungen, der Fernsehturm und der Palast der Republik, der nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften schließlich dem anachronistischen Wiederaufbau des alten Schlosses weichen musste. Während sich die Jugend im Osten Berlins bei Massenveranstaltungen vergnügte, entstanden im Westen Kinderläden, Frauenbefreiungsräte und autonome Zentren. Westberlin versprach nicht nur Ruinenchic und Steuerglück, sondern auch keinen Wehrdienst und keine Sperrstunde wie im Rest der BRD. Die Abgrenzung gegen die BRD war ebenso wichtig wie die gegen die DDR. Ostberlin gab sich weltoffen. Im Westen kämpfte man für individuelle Freiheit, gegen fremde Regeln, gegen Misswirtschaft, gegen Ordnungsmächte und autoritäre Traditionen. Gegen all dies kämpften auch einige Kulturschaffende im Osten, dazu noch gegen Reiseunfreiheit, Zensur und staatliche Überwachung.

Mauerfall und Deutsche Einheit

Pünktlich zum 750-jährigen Jubiläum Berlins, als es den Menschen in Ost und West so gut wie noch nie ging, gerieten die beiden Berlins jedoch in eine Krise, schreibt Bisky: In West-Berlin wuchs die Entfremdung zwischen den Teilen der Gesellschaft und einer skandalgeschüttelten Landesregierung; und in Ost-Berlin formierte sich eine Opposition, die sich nicht mehr unter Kontrolle bringen ließ. Es waren aber gerade nicht allein die Berliner, wie Bisky andeutet, sondern Menschen in Pirna, Leipzig und anderen ostdeutschen Städten, die die Wende herbeiführten, auch wenn Günther Schabowski nolens volens die Mauer über Nacht öffnete und damit eine politische Lawine in Gang brachte, die weder der Osten noch der Westen politisch noch kontrollieren konnten. Der Zusammenbruch des Sozialismus brachte gerade für die Ostdeutschen schwere Jahre: Wer nicht im Westen sein Glück machen konnte und dort Arbeit fand, musste Tragisches mit ansehen: Wirtschaft und Familien brachen mit und ohne Zutun der Treuhand auseinander; Menschen stürzten ab, weil ihr Lebenssinn verlorenging, und andere verarmten. Ganze Landstriche entvölkerten. Geschichte wurde umgeschrieben, Lebenswerke zählten nichts mehr, Abiturnoten und Arbeitszeugnisse wurden abgewertet. Professoren und Chefs wurden massenweise entlassen und mit der zweiten Reihe West-Akademiker aufgefüllt. Betriebe gingen ein, weil keiner ostdeutsche Produkte kaufte. Mieten konnten nicht mehr bezahlt werden. All das spielt in Biskys Buch keine große Rolle mehr. Stattdessen sieht er in der deutschen Einheit einen weiteren Meilenstein der europäischen Geschichte in Berlin gesetzt. Es waren eben nicht nur die Berliner Techno-Partys, Aufbruchstimmung, Häuserbesetzungen in den 90er-Jahren, die nun auch wieder West-Berlin einen Anschluss ans Festland verschafften und dem westdeutschen Arbeitskräftestau ein Ventil boten. Zwar fährt man noch aus ganz Europa nach Berlin ins Berghain zur Party – falls der Club Corona übersteht –, aber längst hat sich in der Hauptstadt der Loveparade auch badischer Provinzialismus breitgemacht.

Europäische Geschichte in Berlin

Jens Biskys Berlin-Geschichte beschreibt die Stadt in ihrem Aufstieg, Niedergängen und Neubeginnen. Ob diese Geschichte jedoch zugleich als Biografie einer Stadt gelten kann, wie der Autor im Titel anklingen lässt, darüber lässt sich trefflich streiten. Auf den letzten Seiten wird es dann noch eine kleine Liebeserklärung an die bunte, vielgestaltige, lärmende, pulsierende und tolerante Stadt, an der die Zeichen der Zeit nicht spurlos vorübergegangen sind. Biskys Buch begann mit dem Mauerfall am 9. November 1989. Er verwendet dieses Ereignis als Subtext, nämlich als Eschathos, dass die 40-jährige Spaltung überwunden sei. Doch das ist noch ein langer Weg. Warum man diese Geschichte, die zweifelsohne großartig ist, eine „Biographie“ nennen muss, erschließt sich bis zur letzten Seite nicht, ebenso wenig wie Biskys zeitweilige Wort-, Witz- und Tonwahl. Fakt ist jedoch, dass es ein kluges, gut recherchiertes und detailreiches Buch ist, das es schafft, 500 Jahre europäische Geschichte als ein kurzweiliges Gewebe von Menschen, Ereignissen und Entscheidungen in eine zusammenhängende Geschichte zu packen. Dieses Urteil kann man dem Buch zusprechen, auch wenn man nicht vom Grundtenor des Autors überzeugt ist, dass Berlin eine Helden-Biographie verdient.

Jens Bisky: Berlin. Biographie einer großen Stadt

Rowohlt 2022

975 Seiten

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