Eine sensationelle Kulturgeschichte

Büchersonntag, Folge 14: Michael Hagner setzt mit seinem neuen Buch dem Tüftler Léon Foucault ein Denkmal

Passte noch zu Zeiten Galileis das Verhalten des Pendels, das die Erdrotation anzeigt, nicht zum damaligen Denkstil, so änderte sich das 200 Jahre später grundlegend. Um 1850 musste niemand mehr überzeugt werden von der Bewegung der Erde. Wie der Autor Michael Hagner herausstellt, hatte sich nicht der soziale und kulturelle Kontext geändert. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert technischer Entdeckungen und Entwicklungen. Dazu änderte sich der Habitus der Wissenschaftler. Und die Möglichkeit der Wissenschaftspublikationen und öffentlicher Räume für die gesellschaftliche Verarbeitung von Wissenschaft nahm ein vorher nicht gekanntes Ausmaß an. In diesem Jahrhundert differenzierten sich Theoretiker von Praktikern, Wissenschaftler von Technikern, Ingenieure von Bastlern. Bastler führten neben den akademischen Mandarinen ein eher unscheinbares Außenseiterleben, scheuten oft Öffentlichkeit oder ignorierten sie. Zu jener Kategorie gehörte auch Léon Foucault.

Foucault, lässt uns der Autor wissen, stammte aus einer wohlhabenden Verleger-Familie, begann ein Medizinstudium in Paris, interessierte sich aber bald schon mehr für Physik und Technik als für Anatomie und Physiologie. Da es ihm jedoch – wie er es selbst formuliert – sowohl an handwerklicher Geschicklichkeit als auch an mathematischem Geist mangelte, konzentrierte er sich alsbald auf die Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen an ein interessiertes Laienpublikum. Unterstützend wirkte sich dabei sicher auch aus, dass er als Journalist jahrelang Feuilletons über wissenschaftliche Neuheiten schrieb. Er zählte nie zur wissenschaftlichen Elite der französischen Hauptstadt, sondern eher zum – heute würde man sagen – akademischen Prekariat. Erst 1855, vier Jahre nach seinem sensationellen Pendelversuch, erhielt er seine 1. reguläre Anstellung als Mitarbeiter in der Pariser Sternwarte. Erst am Ende seines Lebens wurde er in die Pariser Académie des Science aufgenommen. Hagner: „Eine Bilderbuchkarriere sieht anders aus.“

Weltanschauung und Weltbild

Als René Descartes im November 1633 von der Verurteilung Galileis in Rom erfuhr, war er so eingeschüchtert, dass er sich entschied, sein fast abgeschlossenes Manuskript zu „Le Monde“ nicht zu veröffentlichen. Das Buch enthält 2 Teile: einen über das Licht und einen über den Menschen. Descartes ging es um nichts weniger als eine einheitliche Theorie der Physik, die vom belebten Körper des Menschen bis zum gesamten Kosmos, von den Korpuskeln des Lichts bis zu den Fixsternen alles umfassen und den Nachweis erbringen sollte, dass alle Körper den gleichen mechanischen Gesetzen gehorchen. Damit enthielt das Buch nicht nur ein direktes Bekenntnis zum Heliozentrismus, sondern baut auf der Annahme der Erdrotation auf. Nachdem über viele Entwicklungsschritte schließlich Galileis Physik mit Keplers Gesetzen verschmolzen waren, eine elliptische Umlaufbahn und Gravitation allgemein anerkannt wurden, brauchte Kant keinen Gott mehr, um die Architektur des Kosmos zu erklären.

Hagner versteht es in seinem Buch, präzise diejenigen Schritte in der Wissenschaftsgeschichte nachzuschieben, die für das Verständnis dieser allmählichen kopernikanischen Wende im Denken wegweisend waren. Neben den vielen wissenschaftlichen Denkanstößen war es vor allem das Sichtbarkeitspostulat, das im 19. Jahrhundert maßgeblich auch zu Foucaults Experimentanordnung führte. Dies sollte nun auch an einem symbolisch aufgeladenen Ort geschehen, um den Triumph der wissenschaftlichen Erkenntnis besonders deutlich werden zu lassen.

Sakrale Prachtbauten und profane Weltanschauung

Es sind nicht nur der Pariser Pantheon und die Sankt Peter Kathedrale in Rom, die dafür genutzt wurden, um die Wende vom (Aber-)Glauben hin zum wissenschaftlichen Weltbild symbolisch herauszustellen. Das Pendel schwang in drei Sphären: einmal im öffentlichen Raum, in Kirchen, naturwissenschaftlichen oder Technikmuseen, Messen, Ausstellungen und kommerziellen Räumen, wo einem Laienpublikum die Erkenntnisse der modernen Physik vorgeführt wurden; andererseits aber in Schulen, Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen, wo die geometrischen und physikalischen Grundlagen des Pendelversuchs mehr oder weniger detailliert erklärt wurden. Und schließlich auch im privaten Raum, wo man das Pendelexperiment zum Nachbauen auf dem Wohnzimmertisch erwerben konnte.

Trotz des Triumphes der Wissenschaft über den Glauben blieb das metaphysische Bedürfnis ungebrochen. Weil man die Umdrehungen des Bodens, auf dem man steht, nicht unmittelbar anschauen und bemerken konnte, blieben ästhetische Kategorien neben allen rationalen Erklärungen weiterhin bestehen. Im Pendelversuch schwang zugleich ein Stück Unverfügbarkeit mit. So verwunderte es auch nicht, dass es zum Gegenstand von Kunstausstellungen wurde oder als Teil stalinistischer Museumspolitik missbraucht wurde, die Kirchen und Klöster in antireligiöse bzw. atheistische Museen verwandelte, etwa in der Isaakskathedrale.

Nicht nur in der Sowjetunion gingen Pendel und Weltanschauung eine Liaison ein. Auch den USA wurde das Pendelexperiment für politische Zwecke missbraucht, hier allerdings in einem symbolischen Nebeneinander von amerikanischer Geschichte als Technikgeschichte. Gleichzeitig, so behauptet Hagner, kann dieser Akt als Verbeugung von Frankreich gedeutet werden, das für die Unabhängigkeit der USA eine wichtige Rolle gespielt hatte und als Verlängerung dieser Anspielung auch als Hinweis auf die Französische Revolution, in deren Tradition das Foucaultsche Pendel seine politische Symbolkraft erlangt hatte. Als Zierde des Eingangsportals des UNO-Hauptquartiers schließlich gerät das Pendelexperiment zu einem Symbol des völkerumspannenden Weltfriedens. Gleichzeitig depraviert es dort zugleich vom wissenschaftlichen Hauptfokus der Erkenntnis zu einem ästhetischen, aber marginalen Dekorationsobjekt der Anschauung.

Das Foucaultsche Pendel in Literatur und Kunst

Von Anfang an wurde das Pendel in Anspruch genommen für Revolutionen und Warenwelten, wissenschaftliche Evidenz und Demokratisierung des Wissens, antireligiöse Kampagnen und nationale Traditionsbildung, fasst Hagner zusammen. All diesen Konstellationen ist ein fortschrittsaffine Perspektive eigen, die eine historische Entwicklung hin zu Wissen und Wahrheit, Aufklärung und besserem Leben markiert. Diese Fortschrittserzählung spielt in Umberto Ecos Foucaultschem Pendel keine Rolle mehr. Das Pendel garantiert bei ihm gerade keine Stabilität oder wissenschaftlichen Fortschritt mehr, sondern steht inmitten eines esoterischen Netzwerkes von Geheimwissen. Damit bietet es seither eine Art Eintrittskarte für alle möglichen Erzählungen und schwingt seither ironisch zwischen Kunst und Wissenschaft, Glauben und Wissen, Esoterik und Erkenntnis, Geheimnis und Inhaltslosigkeit, Anschaulichkeit und Abstraktheit, lokalen und universalen Perspektiven; zwischen dem Lauf der Welt und unserer eigenen Begrenzung.

Gerhard Richters Zwei Doppelspiegel für ein Pendel in der Dominikanerkirche von Münster ist eine ästhetische Auseinandersetzung mit dem Phänomen. Nicht nur, dass Richter das Gotteshaus profaniert. Das hatten vor ihm schon einige getan. Vielmehr sieht sich Richter berufen, das metaphysische Werk von Priestern und Philosophen fortzusetzen. Für ihn ist es letztlich die Kunst, die nun an die Stelle von Religion und Weltanschauung tritt. Sie ist das, was am Leben hält, dem Dasein, wenn nicht Sinn, dann wenigstens Trost spendet. Wie aber gelingt das Richter mit seinem über eine 350 Millionen Jahre alte Grauwacke-Sandsteinplatte schwingendem Pendel, das sich an der Wand spiegelt? Die Gesamtkonstellation bildet ein Triptychon. Der Aufbau ist nicht mehr selbsterklärend, sondern bedarf des Auge des Betrachters als Ort und Entscheider zwischen Fakt und Fiktion, gerade in Zeiten, wo sich die Ich-Identitäten auflösen. Die äußere Welt gibt dem Menschen keinen Halt, die inneren sozial konstruierten Welten in Form von metaphysischen Weltanschauungen und ihren Petrifikationen in Kirche und Politik sind weniger stabil und gewiss, als sie vorgeben. Letztlich sieht der Mensch in diesen Konstrukten nur sich selbst und in seiner Begrenztheit. Richters erzeugt mit seiner Pendel-Installation ein ambiguitätssteigerndes Wahrnehmungserlebnis, nämlich einen ästhetischen und epistemischen Funkenschlag, der nichts erklären und nichts verklären will, aber Raum für Fragen eröffnet.

Und sie bewegt sich doch!

„Eppur si muove!“ – Galileis trotzige Behauptung wurde zu einem der berühmtesten Sätze der modernen Kosmologie. Obwohl der Wissenschaftler diesen Satz wohl nie so geäußert hat, wurde er zum Emblem für die Ablösung des ptolemäischen durch das kopernikanische Weltbild. Und nicht nur das: Er wurde zum Fanal für die Überlegenheit des Wissens über den Glauben. Die Wissenschaft löste sich von den Denkweisen und Vorurteilen der Religion und folgte ihrem eigenen Credo, der rigorosen Suche nach der Wahrheit. Hagners Buch setzt nicht nur dem technikaffinen Journalisten und Bastler Léon Foucault ein Denkmal und holt ihn so aus dem Schatten akademischen Forschens, sondern erzählt en passant Ideen- und Kulturgeschichte vom Feinsten. Dass dies möglich wurde, ist dem Insistieren des Verlegers Walther König zu verdanken, der diese Arbeit anregte und unterstützte.

1851 konnte der Physiker Léon Foucault mit einem Pendel die Erdrotation nachweisen. Um diese Zeit musste keiner mehr vom kopernikanischen Weltbild überzeugt werden. Dennoch gilt das Experiment als eines der berühmtesten in der Geschichte der Wissenschaften. Michael Hagner, mehrfach prämierter Wissenschaftsforscher in Zürich, gelingt mit seinem Buch ein Mehrfaches: 1. eine faktenbasierte Geschichte bestimmter Kultur- und Medientechniken, 2. das Herstellen eines tieferen Verständnisses von der legendären kopernikanischen Wende und 3. ein ins Lichtrücken derjenigen Protagonisten in der Wissenschaftsgeschichte, die sonst von der Grellheit akademischer Eitelkeit überstrahlt werden. Léon Foucault war so einer.

Michael Hagner: Foucaults Pendel und wir. Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter.

Verlag der Buchhandlung Walther König 2021

396 Seiten

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