Zeitgeschichtliches Dokument eines Traumas, das kein Lesevergnügen bereitet: „Einvernehmlich“ von Donna Freitas
Donna Freitas wurde 1972 in Rhode Island geboren. Ihre Mutter wanderte aus Italien und ihr Vater aus Portugal ein, sie wuchs in katholischem Umfeld auf, studierte Theologie und Philosophie. Heute arbeitet sie als Professorin, Wissenschaftlerin und Publizistin. Sie schreibt für junge Menschen zu zeitgeistigen Themen. Von ihr erschienen der Roman Die neun Leben der Rose Napolitano und journalistische Beiträge in der „New York Times“ und der „Washington Post“, außerdem zahlreiche Schriften und Jugendbücher. Einvernehmlich ist ein autobiografisches Buch, in dem sie akribisch und schonungslos auf sich selbst blickt und die Frage nach ihrer Mitschuld stellt.
Priester und Nonnen als Gegenüber sind ihr seit Kindheit an selbstverständlich, gehören zum Alltag, sie repräsentieren etwas Heiliges. Der Zölibat steht weder in der Kritik, noch sind Verfehlungen bekannt, denn Handlung und Leben spielen in den Neunziger Jahren. Kaum zu begreifen, ohne Scham zu denken, war für sie, was wir heute durch die Medien über Missbrauch wissen. Solche Defizite bei der Verwirklichung sexueller Normen, abgrundtiefe, geradezu teuflisch wirkende Szenarien im Leben machtbesessener und sexuell pervertierter Kleriker wären ihr unfassbar gewesen.
Empathie kann die Lektüre der Kindheit und das Miterleben der noch halb kindlichen Denkerin auslösen, die ihre Mutter mit grundsätzlichen Fragen konfrontiert: „Was ist nun, wenn wir an den verkehrten Gott glauben?“ Das Empfinden des Polytheismus, der bei aller Verkrampfung der katholischen Lehre immer zwischen den Dogmen der Religion hindurch schimmert, lässt uns an ihrem Erstaunen Anteil nehmen.
Spirituelle Trunkenheit
Donna Freitas schreibt, wie sie die Sprechstunden der Professoren an der Georgtown-Highschool aufsucht. „Je öfter ich hinging, desto durstiger war ich, und in den Büros traf ich begeisterte Trinkkumpane. Wir kippten Heidegger und Sartre, Kierkegaard und Charles Taylor, stolze besoffene philosophischer Recherchen. Ich war trunken und euphorisch angesichts der Herausforderungen der Lehre …“. Hier wird sehr gut beschrieben, wie die hungrige Zuwendung zu geistiger Nahrung zu spiritueller Trunkenheit führen kann. Diese Haltung der wissenshungrigen und neugierigen Schülerin, die sie im Grunde genommen für ihr Leben prägt. Gerade aus dieser Konzeption heraus erklärt sich die spätere Schutzlosigkeit der jungen Studentin, die bei aller geistigen Verzückung sich normal entwickelt, sich durch das Vorbild des Vaters für Baseball interessiert und für Jungs in ihrem Alter.
Sie besucht an der Universität, im Graduiertenkolleg, die Sprechstunde ihres Professors und Mentors, des Priesters Father L, der auf seinem Fachgebiet als Koryphäe gilt. Sie ist sehr beeindruckt, dass sich der angesehene Wissenschaftler anscheinend so selbstlos ihr, einer jungen Studentin, widmet. Bald besuchen sie zusammen die japanische Teestube und Cafés, Theaterstücke und er schreibt ihr Notizen und Briefe, ruft sie an und besucht sie, oft nutzt er private Telefonnummern und besucht sie an Adressen, die er nur aus ihrer Akte haben kann.
Anfangs ist sie ohne Argwohn, diskutiert mit ihm und bastelt für ihren Professor kleine Geschenke, freut sich über dessen Aufmerksamkeiten, deren Dimensionen sich allerdings vollkommen unangemessen entwickeln.
Er lädt sie immer wieder ein, mit ihr zu verreisen.
„Wer kommt noch mit?“, fragt sie.
„Nur wir beide und niemand sonst“, wird er antworten.
Auf ihrem Fensterbrett stapeln sich seine Briefe, die sie später nicht mehr öffnet. Sie hat auch ein schlechtes Gewissen, als ihr Vater anruft und ihr die Krebserkrankung ihrer Mutter mitteilt, weil sie nicht zu denken unterdrücken kann, so fände nun ihre Bedrängnis ein Ende. Ihren Priester, Lehrer und Peiniger aber wird auch das nicht stoppen. Er setzt sich – natürlich vorgeblich wohlmeinend – mit der Mutter in Verbindung, ruft bei ihr zu Hause an.
Als sie sich an die Institutsleitung und letztendlich auch an die Magnifizenz wendet, erhält sie keine Hilfe, wird bezichtigt, sich alles nur eingebildet zu haben.
In den Schriftstücken findet sie nicht nur ein Essay des Professors über die Liebe, auch Liebesgedichte – verfasst vom Kleriker – purzeln aus einem Kuvert hinaus.
Was uns vielleicht so schrecklich nicht erscheinen mag, hat sie unvorbereitet getroffen. Sie reagiert mit Unsicherheit betreffs ihrer Wahrnehmung, sucht die Schuld bei sich, bedenkt ihre Kleidung und ihr Verhalten. Sie ist traumatisiert und schämt sich für ihre Schwierigkeiten, wagt nicht mit ihren Eltern oder dem Freund darüber zu sprechen.
Störendes Vorwort
Für uns als Leser wäre die Wirkungsweise des Romans effizienter, wenn nicht das 30-seitige Vorwort zur Sache vorangestellt wäre. Wo sie ihre Selbstfindung unterbreitet und uns den Sachverhalt erklärt, erfahren wir inhaltlich Klartext, wird vieles vorweggenommen, schmälert sie die Neugier auf die Entwicklung der Handlung und beeinträchtigt das Lesevergnügen.
Einvernehmlich ist das Dokument eines Missbrauchs, spannend und gleichzeitig bedrückend. Ein zu inniges, ehrliches Dokument der Therapie, um sich literarisch zu entfalten. Lesbar als zeitgeschichtliches Dokument eines Traumas und Protokoll gesellschaftlichen Versagens, leider auch aus literar-ästhetischen Gründen kein belletristisches Werk, kein pures Lesevergnügen!
Donna Freitas: Einvernehmlich
btb Verlag 2023
368 Seiten
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