Sie nennen sich „Zigeuner“

Büchersonntag, Folge 22: Der Ethnologe Jens Bengelstorf hält die Identität der Rudari und Bajeschi in Südosteuropa für ambivalent

Die Rudari und Bajeschi sind eine rumänische Minderheit, die im gesamten Balkanraum beheimatet sind. Bis heute dominiert in Wissenschaft und Alltag die Meinung, dass es sich bei ihnen um assimilierte Roma handele, die ihre Sprache und Kultur verloren hätten. Somit verweist ihre Geschichte auf eine zentrale Fragestellung bei der Erforschung von Roma- und Balkangruppen weltweit, nämlich: Sind alle „Zigeuner“ gleichzeitig Roma bzw. Sinti?

Mit dieser grundlegenden Frage ist zugleich die Folgefrage verbunden: Wie soll die Wissenschaft über Ethnien reden, deren Namen man nicht mehr aussprechen darf? Schließlich möchte man niemanden in seiner Identität verletzen, man möchte weder rassistisch noch kolonialistisch sein und sich von nationalsozialistischem Denken und Handeln dezidiert absetzen. Roma und Sinti weisen den Begriff „Zigeuner“ für sich als diskriminierend zurück. Eine Minderheit hingegen benutzt ihn für sich selbst und lehnt ihn nicht ab. Und das sind die Rudari und Bajeschi.

Der Autor

Jens Bengelstorf, der Autor des Buches Die „anderen Zigeuner“. Zur Ethnizität der Rudari und Bajeschi in Südeuropa hat sich diese Frage schon vor 20 Jahren gestellt, als er noch an der Leipziger Universität Ethnologie, Soziologie und Journalistik studierte. Er erkundete bereits in seiner Studienzeit die Lebenswelt verschiedener Minderheiten in den Ländern Südosteuropas. Besonderes Interesse entwickelte er für die Kulturen und interethnischen Beziehungen der verschiedenen Roma- und Zigeunergruppen wie der Ursari (Bärenführer), Lautari (Musikanten) sowie Rudari und Bajeschi.

Bengelstorf untersuchte in mehreren Feldforschungen die Lebens- und Wirtschaftsweise sowie die gesellschaftliche Organisation der Rudari und Bajeschi. Er war dabei auch der Frage nachgegangen, was die Identität der beiden Völkergruppen bestimmt. Es fiel auf, dass Rudari und Bajeschi, obwohl sie romanisch-sprachig sind, nicht von den anderen Bevölkerungsgruppen als „Zigeuner“ anerkannt werden. Bengelstorf zeigt, wie die persönlichen Schicksale dabei oft mit dem Wirtschafts- und dem Gesellschaftssystem zusammenhängen, das sie besonders kennzeichnet.

Der Begriff „Zigeuner“

Der Autor erhielt bei der Herausgabe seines Buches Unterstützung von der Leipziger Schule der „Tsiganologie“, die es nicht mehr gibt. Die besondere Schreibweise soll eine Absetzung vom herkömmlichen diskreditierten Begriff der NS-Zeit sein und bezeichnet indigene Gruppen in Osteuropa, Asien und Afrika, die ethnisch nichts mit den Roma zu tun haben.

In den öffentlichen Einrichtungen wie Justiz, Parteien, öffentlichen Einrichtungen und Gewerkschaften wird der Begriff „Zigeuner“ nicht mehr verwendet, weil man sich davon politische Korrektheit verspricht. Im Zuge der Antirassismus-Debatte zogen Hersteller sogar Produktnamen zurück, die den Begriff enthielten. Am privaten alltäglichen Sprachgebrauch und den abwertenden Konnotationen, die Menschen mit dem Ausdruck verbinden, hat das noch wenig geändert. In seiner rassistischen Bedeutung wird „Zigeuner“ jedoch nur im rechtspopulistischen Bereich verwendet.

Allein in der Ethnologie wurde um eine positive Neubesetzung des Begriffs gekämpft. Im Allgemeinen entsteht eine solche Umwertung durch mehr Wissen und Verständnis um Geschichte und Gegenwart dieser Menschen, nicht aber durch Schubladisierung oder Sprechverbote. Mit jeder neuen Etikettierung läuft man nämlich wiederum Gefahr, Menschen und Phänomene auszugrenzen, indem man sie aus falsch verstandener Vorsicht gar nicht mehr thematisiert und so dem Vergessen anheim gibt.

Die Theorie

Seit 100 Jahren bildet die Frage nach den Beziehungen zwischen Rumänen, Rudari und Zigeunern einen Streitpunkt unter den Wissenschaftlern und ist bis heute unbeantwortet. Bengelstorf fasst die Forschungsliteratur zusammen. Er diskutiert konstruktivistische und essentialistische Paradigmen und versucht, sie in einer Theorie der Ethnizität zusammenzubringen. Dabei arbeitet er drei Kriterien ethnischer Identität heraus: Selbstzuschreibung, Fremdzuschreibung und das Vorhandensein ethnischer Marker. Alle drei Kriterien verweisen wechselseitig aufeinander.

Bengelstorfs für ein breiteres Publikum aufbereitetes Buch enthält neben seinen neun Kapiteln über das Leben der Rudari und Bajeschi allerhand Bild- und Kartenmaterial über ihre geographische Ausbreitung und den Alltag der Menschen. So kann der Leser erfahren, dass Rudari und Bajeschi nicht unter eine bestimmte Nationalität zu bringen sind, sondern sowohl in Serbien als auch in Rumänien aufzufinden sind. Der in Leipzig lebende Autor geht dabei auch auf die Begriffsgeschichte ein und unterscheidet verschiedene Kategorien und Konzepte, denen die Volksgruppen zugeschrieben wurden.

Der Tsiganist interessiert sich nun gerade für diese spezifische Identität über die Grenzen hinweg und zwischen den Zuordnungen, die diese Gruppe von Menschen rein von außen ausmachen. Denn die Rudari und Bajeschi identifizieren sich einerseits mit den Rumänen und grenzen sich gegen die Zigeunergruppen ab, andererseits werden sie als „Zigeuner“ bezeichnet und nennen sich auch selbst so. Ziel des Buches ist es daher, das interethnische Gefüge zu beschreiben, in dem sie leben.

Die Geschichte der Rudari und Bajeschi

Bis heute sind viele Fragen zu ihrem Auftreten in den einzelnen Ländern der Balkanhalbinsel ungeklärt. Ein Teil der Rudari und Bajeschi wanderte im 18. Jahrhundert aus Muntenien und Oltenien nach Serbien und ins östliche Bosnien ein. Vom 14. bis 19. Jahrhundert lebten sie in der Walachei und in den Siebenbürgen, wo sie in Goldminen unter Tage arbeiteten. Sie immigrierten auch über Bulgarien und brachten von dort dialektale Besonderheiten mit. Ein dritter Weg erfolgte wahrscheinlich direkt durch das Banat bis in die Baranja in Ungarn bzw. die angrenzenden Gebiete im Norden Kroatiens.

Noch im Zweiten Weltkrieg war Analphabetismus unter ihnen stark verbreitet. Sie waren arm und hatten keine richtige Heimat, hüteten Tiere von anderen und waren gute Holzhandwerker. Die Rudari haben immer wieder unter Diskriminierung und Ausgrenzung leiden müssen. Sie wurden verfolgt und litten oft Hunger.

Für die Rudari selbst ist es ein Dilemma, dass sie die Rumänen als „Zigeuner“ bezeichnen, die Roma hingegen nicht als zu ihnen gehörig ansehen. Einige behaupten gar, sie stammten von den alten Dakern ab. Für manche Rumänen stellen die Rudari – im Unterschied etwa zu den Ursari und Cositorari, die Roma sind – „Zigeuner anderer Art“ dar. Doch was macht ihre Andersheit aus?

Bengelstorf stellt nüchtern heraus: Sie waren und sind an das, was ihnen die Natur gewährt, gebunden. Sie sind daher relativ ansässig und keine Vollnomaden. Die Rudari leben fernab der Stadt, zwischen Flüssen und Wäldern, die sie mit dem Nötigsten versorgen. Ihre Lebensweise ist sehr einfach. Ihre Hütten sind schlicht, oft haben sie keinen Strom. Sie wohnen in größeren Familienverbänden zusammen vom Enkel bis zum Großvater. Auf den Jahrmärkten kommen verschiedene Gruppen zusammen und tauschen unterschiedliche Produkte aus, auf deren Herstellung sie sich spezialisiert haben, etwa auf das Holzverarbeiten oder Köhlern. Land gehört ihnen keins.

Sie werden entweder als steinreich oder bettelarm beschrieben, eine Mittelschicht gibt es nicht. Bis heute ziehen einige Rudari alljährlich im Sommer nach Osten, um Ziegel zu brennen. Das ist zwar keine schwierige, aber auch keine lukrative Arbeit. Dabei wird die Arbeit von einem Patron organisiert, der von der Stadt das Land pachtet, wo sich die Familien im Sommer niederlassen und die Ziegel brennen dürfen. Der Patron kümmert sich auch um die Nachfrage und den Verkauf der Ziegel. Der Patron selbst lebt in der Stadt. Das Verhältnis zwischen Patron und Klientel ist einem Lehrer-Schüler-Verhältnis vergleichbar. Die „Schüler“ bekommen nur dann Geld und Essen, wenn sie auch gut arbeiten und keine Probleme machen. Andererseits kümmert er sich um die Klientel wie ein Vater, bezahlt zum Beispiel Arztrechnungen. Auch im Winter kauft er den Rudari Besen oder Tröge, die sie herstellen, ab, um sie in der harten Jahreszeit zu unterstützen; oder er leiht ihnen Geld.

Identitätsflexibilität

Die Rudari ordnen sich im Alltagsdiskurs gegenüber der Mehrheitsbevölkerung dem rumänischen Lager zu, da ihre Muttersprache Rumänisch und nicht „Zigeunerisch“ ist, sie betonen also ihre rumänische Identität. Auf politischer Ebene besinnen sie sich aber auf die Ausgrenzung und die Differenzen mit der rumänischen Mehrheitsbevölkerung und erkennen die situationale Gemeinsamkeit mit den Roma an, betonen also ihre marginale Stellung in der Gesellschaft. Die Rudari ergreifen dabei oft Berufe, die komplementär sind zu denen der Rumänen und stellen so ein symbiotisches Verhältnis mit ihnen her. Während Rumänen als Bauern oder in der Fabrik tätig sind, produzieren Rudari Handwerkliches. So schafften sie es, bis zu einem gewissen Grad eine Ebenbürtigkeit zu erreichen, die sie für die Mehrheitsgesellschaft der Rumänen nützlich machten und ihnen in einer prekären rechtlosen Situation das Leben sicherte.

Die rudarische Wirtschaftsweise ist gekennzeichnet durch große Selbstständigkeit, geringen Einsatz von Kapital oder Besitz an Boden bzw. an stationären Produktionsmitteln. Oft findet man sie daher als Tagelöhner auf den Feldern oder im Bausektor, um wirtschaftliche Engpässe zu überbrücken. So tun sie insgesamt oft Dinge, um Geld zu verdienen, die andere nicht machen möchten, etwa Beeren, Nüsse, Kräuter und Pilze sammeln, die eine große Gewinnspanne haben. Feste Anstellungen werden von den Rudari oft nicht hoch geschätzt, da sie als Freiheit einschränkend empfunden wird. Manchmal betteln sie auch, stehlen aber nicht, lässt uns der Autor wissen.

Im Gegensatz zu früher lernen heute bereits die Kinder von klein auf den Beruf des Holzschnitzers. Die Ausbildung beginnt bereits mit sieben Jahren. Mit 12 bis 13 Jahren bringen sie eigene Produkte zustande. Allerdings wollen das viele junge Rudari heutzutage nicht mehr, da sie das Löffelschnitzen nicht mehr für zeitgemäß halten. Auch die Arbeitsethik ist nicht immer so wie beim früheren Ziegelbrennen, nämlich geduldig und gleichmäßig. Vielmehr ziehen es die Rudari vor, durch Cleverness schnell großen Gewinn zu machen, statt täglich einer monotonen Arbeit nachzugehen.

Bengelstorf beschreibt, dass die verschiedenen Gruppen von Roma und Sinti in den untersuchten Gebieten entweder muslimisch oder christlich sind. Darüber hinaus sprechen sie oft die Nationalsprache, also serbisch, albanisch, rumänisch oder ungarisch. Manchmal sprechen sie aber auch „zigeunerisch“, also romanisch bzw. Romani, eine Sprache, die mit dem Sanskrit verwandt ist. Dieser ethnische Marker erhält allerdings bei den Rudari und Bajeschi außerhalb der Ursprungsländer einen anderen Stellenwert: Denn unterscheidet sich die rumänische Sprache der beiden Völkergruppen in Rumänien nur dialektal von der Sprache der Mehrheitsbevölkerung, wird sie in anderen Ländern zum Unterscheidungsmerkmal zwischen „zigeunerischen“ Völkergruppen und der Mehrheitsbevölkerung. Hier nennen sie ihre Sprache oft selbst „tiganeste“ (zigeunerisch). Dabei sagen sie zwar oft „tiganeste“, meinen aber eigentlich Rumänisch. Diese Selbstbezeichnung kann darauf zurückgeführt werden, dass zum Beispiel die Bajeschi ähnliche Worte für ihren Gatten oder ihre Gattin („tiganul“ oder „tianca“) haben. Somit ergibt sich für diese Bevölkerungsgruppe eine ganz andere Art der Herleitung des Begriffs „Zigeuner“.

Bengelstorf kann mit seiner anschaulichen Studie, die auch einige Fotos enthält, verdeutlichen, dass sich eine Beschäftigung mit dem Begriff „Zigeuner“ durchaus lohnt, da die innere Einstellung, wie Menschen über andere Menschen reden, sie integrieren oder aber ausgrenzen, weniger eine Sache der Worte, sondern der Haltung sind. Eine „Voldemortisierung“ von Begriffen trägt daher weitaus weniger zur Aufklärung von Sachzusammenhängen bei als deren sachliche und wertfreie wissenschaftliche Aufarbeitung. Eine positive Umwertung von pejorativ gebrauchten Begriffen bedarf immer einer Veränderung der Vorurteile. Um diese Vorurteile abzubauen, muss man sich aber selbst ein Urteil bilden dürfen. Dies geschieht einerseits über solche Studien, die nicht vorschnell opportun sind. Bengelstorf zeigt, dass es mit der Identitätszuschreibung keine einfache Sache ist und dass Gruppen sie ambivalent gebrauchen können. Umso wichtiger ist es, sensibel zu sein nicht nur für Begriffe und Worte, sondern auch für die Absichten, die sie begleiten. Denn oftmals ist der Unterschied verschwommen zwischen bloß rhetorischer oder ehrlicher Anerkennung.

Jens Bengelstorf: Die „anderen Zigeuner“. Zur Ethnizität der Rudari und Bajeschi in Südeuropa

Eudora-Verlag Leipzig 2009

200 Seiten

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