Büchersonntag, Folge 23: Carolin Krahl öffnet in ihrem Roman „Wühlen“ die Augen für eine junge Generation, die bis heute an den Folgen der Wendezeit leidet
Wühlen ist eine Kleinstadt in Sachsen. Es ist der Ort, an dem sich drei Frauen begegnen: Franziska, ihre Schwester Kristina und Ana, die Freundin der beiden jungen Frauen. Geboren sind sie in den 80ern. Anas Mutter kam als Vertragsarbeiterin aus Polen in die DDR. Die beiden Schwestern Franziska und Kristina, die im Buch nur Franz und Kris genannt werden, erleben die Wende und ihre Folgen als eine familiäre Zäsur, die ihr Leben weiterhin bestimmt. Ihre Mutter wird vom Vater verlassen, was diese aber nicht wahrhaben will und alle verstört.
An der Bruchkante
Alle drei Frauen leiden an der Welt, ihren Beziehungen, an sich selbst und den Umständen, die sie zu den Menschen gemacht haben, die sie geworden sind: porös, sich selbst infrage stellend, psychisch versehrt. Sie stehen an einem Wendepunkt, einer Bruchkante: Ihre prekären Lebensformen werden zunehmend lebensverneinend.
Aus ihrer Zerbrechlichkeit sehnen sie sich nach einer anderen Geschichte, einer anderen Autonarration und nach einer anderen Zukunft. Doch ihre Träume und Wünsche zerbröseln an der Realität. Die Wünsche nach Wiederbelebung alter Band-Erinnerungen und der Sehnsucht nach den Anderen zur Stabilisierung ihrer selbst versickern in Verdrängungsprozessen.
Schließlich sortiert Ana die hinterlassenen Spiralblöcke, Hefte und Therapieberichte ihrer Freundinnen, um eine Ordnung in die Vergangenheit zu bringen und die Auswirkungen der Nachwendezeit auf die Dreierkonstellation der jungen Frauen zu reflektieren.
Montage als Textform
Die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit findet ihre Widerspiegelung in der Form des Textes der jungen Autorin Carolin Krahl. Aus Berichten, Briefen und Recherchen zur Transformationszeit der 90er Jahre sowie aus Radiobeiträgen entsteht ein literarisches Archiv dieser und der heutigen Umbruchszeit. Andeutungsweise wird auch reflektiert über feministische Entwürfe von damals.
Nicht immer ist im Buch klar, wer gerade wen reflektiert. Es entsteht ein Knäuel von Gedanken: Erinnerungen vermischen sich, werden überlagert von Ansichten aus dem Heute. Und genau so verhält es sich ja auch mit den Erinnerungen der Menschen. All diejenigen, die behaupten, sie wüssten genau, wie sich alles zugetragen, wer was gedacht, gesagt usw. hat, der macht es sich mit Geschichte und deren Erzählungen darüber zu einfach. Denn sie sind immer auch ein nachträgliches Erinnerungskonstrukt – natürlich anhand von realen Artefakten entlang gestrickt, denn sonst wäre sie Fiktion.
Carolin Krahl vermag es, durch ihre ständig wechselnde Ich-Perspektive – mal als Franziska über Kris reflektierend, mal als Kris über Ana und Franziska sinnierend oder als Überlegungen von Kris darstellend – die Leserin in einen permanenten Perspektivwechsel hineinzuziehen, sodass sie nie für eine Person Partei einnimmt, sondern immer auch das Verständnis für die anderen weckt. Sie beleuchtet damit die Problemlagen nicht nur von einer, sondern von verschiedenen Seiten.
Wende-Kosten
So entsteht aus dieser Art Briefroman zugleich auch eine tiefere Einsicht in die Zustände eines vollständig aus den Angeln gehobenen Landes, der ehemaligen DDR, das nicht nur viele Arbeitslose und Sinnsuchende hinterlässt, sondern auch eine Generation von Jugendlichen, für die die Versprechungen des Kapitalismus weit weniger verlockend sind als für ihre Eltern, weil sie deren Kosten und Schicksale real vor Augen haben. Während in den Nachwendejahren die Elterngeneration ganz pragmatisch ums Überleben in einer neuen Gesellschaftsordnung mit neuen Regeln kämpft, die sie nicht durchdringen, kämpfen die Kinder und Jugendlichen bis in die Gegenwart hinein psychisch ums Überleben, weil ihre Eltern, deren ideeller und materieller Halt selbst weggebrochen ist, ihnen keine Stabilität mehr bieten können.
Carolin Krahl vermag es mit ihrem Buch Wühlen im wahrsten Sinn aufzuwühlen. Ihrem Text wohnt eine Tragik inne, die wohl jeder Transformationsprozess in sich trägt. Ihr gelingt es, in diesem Roman die Kosten aufzuzeigen, die jeder gesellschaftliche Wandel mit sich bringt und zeigt, wie tief und schwer sich dieser Wandel in die Seelen von jungen Menschen einprägt. Sie gibt damit einer Generation eine Stimme, die heutzutage allzu schnell funktionieren soll, ohne sich finden zu dürfen. Damit öffnet ihr Buch hoffentlich vielen die Augen und macht sichtbar, was allzu oft übersehen wird.
Carolin Krahl: Wühlen
Trottoir Noir 2024
298 Seiten
Das Buch ist leider nur über die Autorin oder den Verlag zu erhalten, mehr Infos unter www.trottoirnoir.de
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