Ergreifend, aber auch komisch bewegt sich Olga Tokarczuks charakterstarke Antiheldin zwischen Mensch und Tier, Leben und Tod sowie Himmel und Erde. Die Orte der Handlung, eine Dorfgemeinschaft und ein Wald im Grenzgebiet zwischen Polen und Tschechien, werden so zum Programm.
Janina Duszejko lebt zurückgezogen auf einer Hochebene im Wald, im Grenzgebiet zwischen Polen und Tschechien. Von den meisten Bewohnern des kleinen Ortes in der Nähe wird sie als verschrobene Alte angesehen: Ja, sie unterrichtet die Kinder ganz gut in Englisch. Ja, sie scheint etwas auf dem Kasten zu haben, schließlich war sie mal Brückenbau-Ingenieurin. Aber sie ist auch eine militante Vegetarierin und Astrologin und stellt die Tiere auf die gleiche Ebene wie die Menschen.
In den Augen der Dorfbewohner geht das natürlich gar nicht, erst recht nicht, da sie die Ordnung des Dorfes stört und die Berechtigung zur überwiegend männlich geprägten Jagdtradition in Frage stellt. Unerhört. Meinungsfreiheit. Tierschutz. Gleichberechtigung. Auf Gesetze pochen. Einfach unerhört. – Tatsächlich: Denn die Briefe an Behörden wie die Polizei bleiben unbeantwortet. Und die Todesfälle unter den bekannten und unbekannten Jägern der Dorfgemeinschaft, ob legal oder illegal: Egal, sie häufen sich.
In ihren körperlichen Schmerzen, in ihrer Sehnsucht nach Bedeutung, die sie in der Sterndeutung zu stillen versucht, erkenne ich mich wieder. Gegen diese Form der Sternenkunde hätte ich Einwände, doch ich vermute, dass es sich mit einem bedeutungsstiftenden Sternensystem, das die Geschehnisse der irdischen Gegebenheiten zu lenken scheint, leichter lebt.
Die gezeichneten Individualisten, die sich um die Ich-Erzählerin, ihre Kochkünste und anderweitigen wärmenden Fähigkeiten zusammenfinden, sind vermutlich wie wir alle auf der Suche. Aufgrund innerer oder äußerer Umstände haben sie sich den allzu engen Gesetzen der Dorfgemeinschaft entzogen. Ihr Verhältnis zu den Tieren, dem Wald um sie herum bringt sie einander näher. Die Natur, die lebt, ein unvorhersehbarer Organismus, den die Menschheit, die sich in sie nicht einordnen kann, zu kontrollieren versucht. Sie scheint sich zu wehren gegen das Leid, das die Menschen allen Lebewesen angetan haben.
Die Ich-Erzählerin fragt sich, ob die menschliche Psyche den Menschen schützt vor der Wahrheit, die er nicht ertragen kann. Wie hängt diese „Wahrheit“ mit der psychischen Gesundheit von Janina Duszejko zusammen? Sie hört Stimmen, sieht ihre tote Mutter und andere Verwandte im Keller. Was ist überhaupt Gesundheit? Die Ich-Erzählerin ist schon fast erleichtert über ihr nicht näher definiertes Leiden, gibt es so doch etwas, worin sich Krankheit – auch Krankheit am Menschsein – ausdrücken kann.
Und ich frage mich, wie wir Menschen uns auf unserer Suche nach dem, was wir vielleicht finden oder auch nicht, verbinden können, um dennoch zusammen glücklich zu sein. Und wie viel paradiesische Unordnung wir aushalten können, die unbestimmt biblische, einen fast nur noch Menschen gemachten Urwald, einen urbanisierten Auwald oder die Baumgruppe zwischen den Häusern. Die Ich-Erzählerin hätte ich gerne kennengelernt, ob vor dem ersten oder nach dem letzten Toten weiß ich nicht, jedoch gerne nach dem letzten Satz. Denn der ist ihr letzter Befreiungsschlag.
Olga Tokarczuk, Der Gesang der Fledermäuse, Kampa Verlag, Zürich, 320 Seiten, aus dem Polnischen übersetzt von Doreen Daume


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