Die Melancholie der Zwischen-Weltler

Büchersonntag, Folge 26: In Orhan Pamuks Buch „Diese Fremdheit in mir“ gelingt die Wiederbelebung eines narrativen Archetypus‘ und der Blick auf einen epochalen Wandel aus der Perspektive des kleinen Mannes aus Anatolien.

Endlich Urlaub, endlich Tapetenwechsel, endlich Zeit zum Lesen. Ich freute mich auf meinen Türkei-Urlaub. Mit im Gepäck: ein Buch von Orhan Pamuk. Ich hatte das Buch verschenkt, ohne es selbst gelesen zu haben. Nun endlich hatte ich Zeit dafür. Und es hat sich gelohnt, besuchte ich doch auch zum ersten Mal Istanbul, die Stadt, der Pamuk in seinem Werk ein literarisches Denkmal setzt. Ich rede von seinem Buch „Diese Fremdheit in mir“, das 2014 erschien, sechs Jahre nachdem der Autor mit dem Nobelpreis beehrt wurde.

Erzählt wird die Generationen übergreifende Geschichte des Joghurt- und Boza-Verkäufers Mevlut. Dieser kommt – wie viele junge Menschen – 1954 aus Anatolien in die heimliche Hauptstadt der Türkei. Dort hilft er zunächst seinem Vater im traditionellen Handwerk des Herstellens des Bozas, eines leicht alkoholischen Getränks aus Hirse. Später übernimmt er selbst den Verkauf.

Beschrieben wird die Mentalität eines zuweilen verträumten Mannes, der alle Möglichkeiten zu haben scheint, diese aber meist ungenutzt verstreichen lässt. Trotz aller Erwartungen an ihn, gibt er die Schule auf, trotz Verliebtheit heiratet er die Schwester der Angebeteten, trotz materieller Möglichkeiten gibt er seine Anständigkeit nicht auf. Mevlut ist nicht mutig, zuweilen mangelt es ihm an Entscheidungswillen, den richtigen Netzwerken und nötiger Chuzpe.

Im Laufe des Romans wird immer deutlicher, dass er der modernen westlichen Schnelllebigkeit und den damit einhergehenden Veränderungen der Lebensgewohnheiten nichts abgewinnen kann. Dabei trägt eine gewisse Melancholie den Roman über die vielen Seiten hinweg. Mevlut verkörpert sie zunächst mit seiner Selbstbegrenzung, später dann – ähnlich wie sein Vater – mit einer tiefen Verstimmtheit. Eine alte Welt geht zu Ende und eine neue hat begonnen. Mevlut möchte, dass nicht alles über Bord geworfen wird. Er sieht sich als ein Bewahrer alter Werte und Traditionen, öffnet sich schließlich auch den moralisch-religiösen Lehren der Derwische, die im anatolischen Teil der Türkei eine lange Tradition haben.

Pamuk schafft es in seinem Roman, aus der Familienkonstellation Mevluts heraus eine tief berührende Geschichte der türkischen Transformation im 20. Jahrhundert zu zeichnen. Er beschreibt den Bauboom in Istanbul, die Veränderung der Netzwerke, die Aushöhlung religiöser Rede, das äußere Festhalten traditioneller Werte bei gleichzeitigem Einbruch moderner Technik und Umgangsformen. En passen erzählt er die Kulturgeschichte des Boza-Herstellens, eines heute verschwundenen bierähnlichen Getränkes. All das wird eingebettet in eine anrührende Liebesgeschichte.

Zwar mag man sich wundern, warum Pamuk sich im Roman nicht fortschrittlicher zeigt. Schließlich gäbe es im Jahr 2014 allerhand am traditionellen Frauenbild zu kritisieren. Doch genau diese Erwartung erfüllt der Autor nicht.

Meine Vermutung ist, dass genau das mit der Figur Mevlut auch nicht folgerichtig gewesen wäre. Mevlut hat seine kulturelle Herkunft internalisiert, es ist seine zweite Natur, aus der er nicht herauskann. Sie bildet seinen Horizont, hinter den er nicht zurückkann. Deshalb ist e auch die Tradition in Gestalt von Familie und Religion, die ihm letztlich wieder Halt gibt. Sie steht bei ihm für Fairness, Moral und Anständigkeit. Damit bildet sie in Pamuks Roman den Kontrapunkt gegen die Schlitzohrigkeit, Geschäftstüchtigkeit und Dreistigkeit der neureichen Moderne.

Für Pamuk steckt im Traditionellen viel Positives, was in der zweckrationalen Moderne zunehmend verloren zu gehen scheint. Die Figuren seines Romanes sind ein ergreifendes Beispiel dafür, wie brachial und unsensibel sich die Moderne ihre Wege bahnt und die alte Welt einreißt. Doch sie versteht es nicht, das entstandene metaphysische Vakuum mit Sinn, Hoffnung und Perspektiven zu füllen. In solchen Transformationsprozessen, wie der Autor sie aus eigenem Erleben beschreibt, werden alle Menschen zu Fremden. Sie werden im Neuen nicht heimisch und haben zugleich die Heimat verloren. Es sind Zwischenweltler.

Der Anti-Held Mevlut repräsentiert diese Menschen, die zwischen Moderne und Tradition hin- und hergerissen sind. Für sie wird die Welt kälter, denn sie fühlen sich von der Bigotterie und dem Zynismus der Modernen abgestoßen. Und umso mehr diese Welt in die eigene einbricht, desto stärker werden wieder traditionelle Lebensformen attraktiv. Bei Mevlut ist es die Religion, die ihm Halt und Antworten gibt. Weil er die moderne Welt nicht versteht, gelingt es ihm nicht, in ihr einen Anker zu finden. Allerdings reicht seine eigene Kraft und Persönlichkeit nicht aus, einen neuen Anker aus sich selbst zu setzen.

Mit seinem Roman hat Pamuk das Märchen vom armen, aber an Anständigkeit reichen kleinen Mann wiederbelebt. Er hat Menschen eine Stimme gegeben, die sonst keine bekommen. Pamuk ist ihr Sprachrohr. Die Geschichte von Mevlut macht ihre Perspektive auf die Dinge nachvollziehbar. Schon das allein ist aller Ehren, aber vor allem des Lesens wert.

Orhan Pamuk, Diese Fremdheit in mir, Fischer Taschenbuch, aus dem Türkischen von Gerhard Meier, 588 Seiten.

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.