Die im Dunkeln sieht man nicht

Büchersonntag, Folge 28: Ralf Konersmann fragt in seinem Buch „Außenseiter“ nach der Rolle von Nonkonformisten für die Gesellschaft.

Die Frage, ob man zu einer Gruppe dazugehört oder nicht, ist in der sozialen Welt von wörtlich entscheidender Bedeutung. Denn den zu einer Gruppe Dazugehörigen kommt die Macht zu, über die Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, über ein Drinnen und Draußen zu entscheiden. Sie haben die Sortiergewalt – eine Konstellation, die asymmetrischer nicht sein kann, denn die draußen sind ihr ausgeliefert.

Der Kampf um die „Masterposition des Wir“, wie Konersmann es nennt, hat zwar unterschiedliche Gesichter, beansprucht aber jeweils ein Allumfassendes zu vertreten. Schon hierin tritt eine Schieflage der eigenen Wir-Position hervor. In diesem Wir, das sich abgrenzt und andere ausschließt, schwingt immer eine gewisse Paranoia mit, die andere verdächtigt. Die Abweichler und Nichtübereinstimmer gelten für das Wir als befremdlich, weil sie die Anpassung schuldig bleiben. Demzufolge werden dem Außenseiter nicht goutierte Eigenschaften zugesprochen: Er sei egozentrisch, monadisch, toxisch, regelbrecherisch narzisstisch, pathologisch usw. An Ende sei es das Inklusionsgebot selbst, das den Einzelnen dazu drängt, dazugehören zu wollen oder sich eben durch Exklusion zu definieren.

Der Außenseiter als philosophischer Befund

Ralf Konersmann denkt in seinem Buch Außenseiter über genau jenen Befund auf philosophische Weise nach. Ihm zufolge stammt der Begriff aus der Welt des Sports. Outsiders sind dort solche, die keine Siegchance haben, aber trotzdem ins Rennen gehen oder geschickt werden. Mit der Moderne nehmen auch Begriffe des Sports Raum: gewinnen und verlieren, vergleichen, konkurrieren, schnell reagieren, chancenlos sein, Vorteile ausnutzen usw. Auch die Metapher des Netzes zieht eine deutliche Bildlogik nach sich. Aber man findet die Außenseiter nicht nur dort. Man findet sie in der Antike ebenso wie in der Gegenwart. Es gibt selbst ernannte Außenseiter und Verstoßene. Immer aber ist mit seiner Anwartschaft auf die Nichtzugehörigkeit eine Zuweisung verbunden.

Nun schreitet Konersmann die Galerie der Nonkonformisten ab: zunächst den Dandy, der die Massentauglichkeit verweigert, die Bad Boys und Girls der Popkultur, die ihre Tabubrüche wohldosieren, die Exzentriker mit der Absolutsetzung ihrer selbst. Insbesondere sind es Philosophen, die für den emeritierten Professor in diese Reihe gehören: Rousseau, Sokrates, Thales von Milet, Seneca usw. Man kann nicht sagen, dass Konersmann selbst in diese Reihe der Nonkonformisten zählt. Allenfalls die Frage, ob der Essay auf dem Gebiet des Philosophischen das ist, was den Außenseiter für die Gesellschaft darstellt – wie Konersmann behauptet –, geht in diese Richtung.

Man muss dem Autor zugutehalten, dass er es in seinem Essay nicht einfach bei Begriffsklärungen und der Aufzählung von Erscheinungen des Außenseitertums belässt. Am Philosophen Rousseau zeigt er zum Beispiel exemplarisch, dass es nicht nur darum geht, wenigstens anders zu sein. Vielmehr ist es ein Anzeichen der Aufklärung, zu deren Anfängen Rousseau zu rechnen ist, eine eigenständige Position zur Welt zu entwickeln, indem man nicht einfach den Erwartungen entspricht, sondern die Welt erst einmal auf Distanz bringt. Das moderne Ich mit seinem Anspruch auf Selbstbesitz, Selbstbestimmung und Autonomie lehnt sich zunächst noch nicht auf und spielt nicht den Helden, sondern will sich nur treu bleiben und nicht vereinnahmt werden. Es ist diese zurückgenommene Dissidenz, die die ersten Aufklärer auszeichnet. So wird für ihn das Außen zum Privileg dessen, der – weil er draußen steht – Dinge und Wahrheiten sieht, die anderen verborgen bleiben.

Die Kompensation des modernen Wirs

Für Konersmann ist die Moderne das Zeitalter der Außenseiter. Sie definiert von Anfang an das Ethische sozial und das Soziale politisch. Das bedeutet, die Gewährung von Zugehörigkeit wird von Haltung und Eignung abhängig gemacht. Zugehörigkeit verstetigt sich nämlich vor allem dann, wenn man entsprechende Anpassungsleisungen fortlaufend zu bestätigen bereit ist. So wird Zugehörigkeit letztlich zu einem Verdienst. Damit bedient sie subkutan ein sozial-darwinistisches Theorem. Aus der Emanzipation der Aufklärung wird zunehmend ein Akt der sozialen Anpassung. Die Gesellschaft der Bürger, die sich ein metaphysisches Wir geschaffen haben, fühlt sich dann gezwungen, Abweichungen rechtzeitig entgegentreten, damit sie sich nicht zu Infragestellungen des Wir auswachsen. Anders als im christlichen Ideal ist aber die auf politische Weise zustande gekommene Wir-Solidarität selektiv, denn ihr intendiertes Miteinander impliziert zugleich ein Gegeneinander.

Der Außenseiter ist jedoch keine Erfindung der Moderne. Schon in der Antike findet Konersmann die Solitäre, die das Denken insgesamt vorangebracht haben. Anhand des Gemäldes „Schule von Athen“ von Raffael erläutert der Autor, welches Ideal des Denkens gegen jeden Konkurrenzkampf im Sinn hat: Er sieht ein gesprächiges Miteinander, eine gepflegte Bühne der Konversation und des Argumenteaustauschs, wo es das Eigene und Besondere braucht, um einander anzuregen und Inspiration zu sein. Doch die Antike pflegt eine Muße, die der Moderne längst abhandengekommen ist.

Die metaphysische Lücke schließen

Nun fragt Konersmann in seinem Essay, wie es zu diesem grundlegenden Wandel gekommen sein mag: Für den Autor ist es der Zusammenschluss von sozialen Einheiten zu einer Gesamtgesellschaft, die sich als säkular versteht. Diese Gesellschaft der Immanenz wird derjenigen der Transzendenz gegenübergestellt. In der Moderne kann der Mensch die Verantwortung für sein Tun nicht mehr an Gott delegieren, sondern delegiert sie an ein politisch verfasstes Wir. Doch dieses Wir hält Konersmann für prekär, denn seine Realität der Ausschließung und Totalisierung und Verschwisterung stehen in krassem Widerspruch zur Idee der Toleranz und der humanen Verpflichtung, keinen Menschen aus der Gemeinschaft herausfallen zu lassen.

Für den Autor ist es gerade die Alltagsferne, der die philosophische Existenz für das Thema Außenseiterschaft interessant macht. In der Distanziertheit, der Muße, ist das Außen der Ort, sich dem Wir zu entziehen. An diesem Ort kann das System der Meinungen aufgebrochen werden. Die Abseitigkeit erlaubt, einen erweiterten oder genaueren, damit aber auch abweichenden Blick auf die Welt zu gewinnen. Im Schutz der Muße wird es möglich, sich von der Sache führen zu lassen. Im Mittelalter gab es Raum für die Muße, wo sie in Klöstern und Palästen gepflegt wurde. Spätestens seit der Aufklärung gilt sie als Anmaßung, elitär und aus der Zeit gefallen. Konersmann ruft daher zu einem Anachronismus auf, wenn er der Muße wieder Raum geben will.

Ins Rampenlicht

Konersmanns Buch ist nicht nur eine Reflexion auf die vielen Seiten des Außenseitertums in seinen historischen Erscheinungen und gesellschaftlichen Facetten. Vielmehr ist es ein kritisches Beäugen der eigenen Gegenwart. Er fragt danach, wohin Anpassungsleistungen führen und hält es für problematisch, was das Schielen auf die Zustimmung derer, die das Sagen haben, beinhaltet. Denn dieser schiefe Konsens unterwirft auch das Wissen und Regularien einem bestimmten Milieu. Diesem Milieu aber muss dringend und dauerhaft der Spiegel vorgehalten werden. Das kann nur von einem Außerhalb geschehen.

Deshalb ist Konersmanns Buch ein Plädoyer für Unangepasstheit und Vielfalt. Ebenso ist es ein Buch, das davor warnt, eine imaginäre Autorität des Wir anzurufen. Im exemplarischen Außenseitertum des Philosophen sieht Konersmann eine korrektive Antwort auf die Zumutungen, die mit einer zur Selbstidealisierung neigenden Gesellschaft verbunden sind. Damit holt er den Außenseiter aus seiner Nische. Die Frage ist, ob jedes Außenseitertum dieses Rampenlicht verdient. Der Spruch „wenigstens anders“ ist daher genauso einseitig wie „dabei sein ist alles“.

Ralf Konersmann, Außenseiter. Ein Essay, S. Fischer, Frankfurt am Main 2025, 158 Seiten.

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.