Schule als Topos einer Utopie. Diskurs über Annie Ernauxs Texte

Letztmalig bei DOK Leipzig zu sehen am 01.11.2025 um 20 Uhr im CineStar 4

Schüler*innen in Lycées im gesamten französischsprachigen Raum: in Städten Frankreichs und in Überseegebieten wie Französisch-Guayana. Zusammen mit Lehrer*innen diskutieren sie Philosophisches, Persönliches und Politisches. Durch Fragen setzen sie sich mit Literatur auseinander. Sie diskutieren die Texte der Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux. Vor der Kamera erzählen sie von Situationen, die sie noch nie vorher in Worte gefasst haben und werden sich einer Kraft bewusst. Der Kraft einer geschilderten Realität, die zum Sprechen und Zuhören einlädt. Denn auch wenn der Text real erscheint, handelt es sich eben doch um Fiktion, um ausgewählt Erzähltes und Erinnertes. Im Dokumentarfilm der französischen Filmemacherin Claire Simon, „Writing Life: Annie Ernaux Through the Eyes of High School Students“. 

Ernauxs Texte halten wie die Kamera direkt auf Erlebnisse. Wie ohne Filter. Es wird erzählt, was im Leben der Ich-Erzählerin passiert, schonungslos, scheinbar ohne Poesie. Eine Abtreibung auf einer Toilette etwa und eine Sexszene, in der eine patriarchale Unterwerfung stattfindet. Eine Szene, in der sich die Frage nach einem Opfer stellt, das nicht weiß, ob es eines sein will und kann. Denn da sind auch irritierende Glücksgefühle, die die Situation uneindeutig machen. Angeblich weiß der Mann nicht, wie wichtig er für sie ist. Und Claire Simon zeigt ein Mädchen aus dem Klassenraum, das die Pille danach „meist selbst bezahlt“. 

Junge Menschen, die Träume haben und vielleicht die Kraft, sie umzusetzen. Manche Träume werden sich in den gegenwärtigen Strukturen erfüllen, andere nicht. Sozialer Aufstieg, soziale Gerechtigkeit, Gesellschaftskritik am Patriarchat – Schule als ein Ort, an dem man über die Kernthemen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit spricht, die Parole der Französischen Republik. In der Diskussion scheint es zunächst, als ob es heute besser wäre als vor 40 Jahren, als Annie Ernaux 45 Jahre alt war. Doch dann tauchen Fragezeichen auf über die vermeintliche Gerechtigkeit. Erneut wird das Publikum Zeuge einer Katharsis.

Im Film entsteht Schule als ein Ort, an dem es um einen Kern der französischen Kultur geht: den Diskurs. Als ein Ort, an dem man sich zuhört, das Wort ergreift, mutig ist, eine Position zu beziehen anhand eines Textes. Ein Ort, der auf die Möglichkeit der Sprache zur Emanzipation hinweist. Dialog wird möglich, über Klassenunterschiede hinweg. Was nicht erzählt wird, ist, wie groß der Teil der französischen Bevölkerung ist, der Zugang zu diesem Möglichkeitsraum hat. Der Film endet mit einem Bild auf eine Schülerin, die eben vor der Kamera offenbart hat, dass sie Schriftstellerin werden will, tief beeindruckt von der Poesie Annie Ernauxs. Schule als Topos in Zeiten, in denen kulturelle Räume wichtig sind wie nie.

Film: Writing Life: Annie Ernaux Through the Eyes of High School Students. Écrire la vie – Annie Ernaux racontée par des lycéennes et des lycéens. 

Eröffnungsfilm, Dokumentarfilm, Frankreich 2025, 90 Minuten

Regie: Claire Simon

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