Büchersonntag Folge 29: Jens Bisky fragt in seinem Buch „Die Entscheidung“ nach den Möglichkeitsmomenten, die es in den Jahren 1929 bis 1934 gegeben hätte, um den Aufstieg der NSDAP in Deutschland zu vermeiden.
Es waren Schicksalsjahre, die Jahre zwischen 1929 und 1933. Obwohl: Schicksal trifft es wohl nicht ganz. Denn es gab keine höhere Macht, die den Weltlauf bestimmte und sich dem handelnden Einfluss des Menschen entzogen hätte. Es gab also nichts Fatalistisches, das man nicht hätte durch weitsichtigere und beherztere Entscheidungen hätte vermeiden können. Das ist der Grundtenor des von Jens Bisky vorgelegten Buches „Die Entscheidung“, das im Rowohlt-Verlag erschienen ist.
Das Buch beginnt mit dem Tod Gustav Stresemanns im Oktober 1929. Als dieser erfolgreiche Außenminister starb, stellte sich die Frage, wie es nun mit der Weimarer Republik weitergehen könnte. Dass mit dem Tod einer einzelnen Person so viel ins Wanken geriet, war nur möglich, weil schon vorher vieles nicht mehr gut lief. Die Reparationszahlungen zwang die Republik zu unpopulären Entscheidungen. Die Wirtschaftskrise tat ihr Übriges zum Elend der Menschen dazu. Deren Folgen rissen den Zusammenhalt in der Gesellschaft auseinander, forderten der Bevölkerung zu viel ab, führten zu Gewalt und Terror und rollten schließlich den Teppich aus für den Aufstieg radikaler Kräfte.
An diesem Scheideweg stand die Frage: demokratische Republik oder faschistischer Staat. Die Gunst der Stunde nutzten, wie bekannt ist, die Nationalsozialisten. Bisky beschreibt auf den 640 Seiten seines von vorn bis hinten spannenden wie erhellenden Buches, welche konkreten Sachverhalte und Entscheidungen einzelner Personen und politischer Gruppen zu diesem schrecklichen Kapitel in der Geschichte Deutschlands führten. Dabei nimmt der Kulturwissenschaftler die verschiedenen sozialen Milieus und Schichten gesondert in den Blick, um sie dann doch wieder in ein Gesamtgeschichtsbild einzubinden.
Er beschreibt, wie sich die Konservativen und Nationalisten maßlos überschätzten, indem sie sich einbildeten, Hitler zähmen zu können. Wie die reaktionären Eliten die Situation der Zeit falsch einschätzten, indem sie offenkundige Zeichen verharmlosten und ggf. für sich selbst nutzbringend umsetzen wollten, indem sie sie gegen die Republik einsetzten. Gleichzeitig pulverisierte sich das bürgerliche Milieu, die unteren Schichten verelendeten und Bauern warfen schließlich Bomben. Gruppen ergriffen Partei gegeneinander und die jungen Menschen gingen den nationalsozialistischen Bauernfängern auf den Leim. Selbst die Gewerkschaften und der studentische Asta trafen Entscheidungen, die den Nazis in die Karten spielten. Nicht zuletzt die Verwaltungen zeigten sich rückratlos.
Aufschlussreich sind in dem Buch besonderes jene Episoden, die versuchen, ein erklärendes Verständnis für die weithin verbreitete dominante harte Verurteilung der SPD herbeizuführen. Dabei bemüht sich Bisky um eine sachgerechte Detailanalyse des sozialdemokratischen Kanzlers Hermann Müller und seines Arbeitsministers Rudolf Wissel. Solche Beispiele zeigen, dass es nicht zwangsläufig auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten herauslief, sondern es viele kleine Einzelentscheidungen waren, die zu diesem Ergebnis geführt haben.
Bisky gelingt es mit seinem Buch, ein Panorama aufzumachen, das Schlüsselmomente dieser Jahre nebeneinanderstellt, ohne dabei einen einzige als Hauptursache für die deutsche Misere verantwortlich zu machen. Damit legt er die Hauptschuld nicht in einen schicksalhaften Automatismus, sondern auf die Schultern vieler Entscheider und Mittäter. Doch es liegt ihm dabei weniger daran, einen Pranger aufzustellen als daran, die gegenwärtigen Zeichen der Zeit richtig und couragiert zu deuten. Auch wenn sich die Geschichte nicht einfach wiederholt, so ist der Appell an das Handeln und die Entscheidungen einzelner nicht laut genug zu skandieren.
Biskys Buch gab dem Bedürfnis nach, gegenwärtige Probleme durch einen Vergleich mit der Geschichte zu verdeutlichen. Dieses Anliegen ist ihm anschaulich gelungen. Sicher waren die Gemengelagen Anfang der 30er Jahre andere. Aber die komplexen Entscheidungsketten, die zum Ende der Weimarer Republik und damit demokratischer Bestrebungen führten, schärfen auch die Sinne des gegenwärtigen Lesers für politische Entscheidungen, gesellschaftliche Zustände und Befindlichkeiten der einzelnen sozialen Schichten. Da gibt es eine ähnliche breite Verunsicherung in der Gesellschaft, der Status quo vieler wackelt, kalte und heiße Kriege erschüttern das seit der Nachkriegszeit geltende Narrativ von wirtschaftlichem, politischem und moralischem Fortschritt bis ins Mark. Das Handeln ins immer Extremere, technologische Fortschritte, deren Folgen nicht absehbar waren, und die XXX trugen bei zum Bild der politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen jener wie auch unserer Zeit.
Wie der erwartete Entscheidungskampf zwischen NSDAP und KPD ausging, ist allgemein bekannt. Damals hatten Krieg, Inflation und die Massengesellschaft die bisherigen kulturellen Verbindlichkeiten unterhöhlt. An ihre Stelle traten bürgerliche Selbstzweifel angesichts der pausenlosen Angriffe auf vermeintlich veraltete Werte und Ideale. „Bürgerlich“ wurde zum Schimpfwort, ebenso wie „vernünftig“ oder „gemäßigt“. Heute sind es Werte wie „Bildung“, „Anständigkeit“ oder „Fairness“, die in Verruf geraten. Wie gefährlich jedoch die oft unreflektiert kolportierten Schuldzuweisungen an „das System“ oder „die da oben“ sind, zeigt gerade das gegenwärtige Aufspalten der deutschen Gesellschaft. Dass in solchen Zeiten oft „die Stärkeren“ oder „Lauteren“ ihre Claqueure suchen, ist dabei oft nur dem Wunsch nach schnellen Lösungen geschuldet. Unbemerkt schwappt dann die rhetorische Macht schnell auch in autoritäre Rhetorik um.
Allerdings, so warnt der Autor, schießen voreilige und leichtfertige Vergleiche schnell über das Ziel hinaus ins radikalisierende Lager. Die Situation heute ist ein andere, anders komplexe. Die Weimarer Republik ging unter, weil republikfeindliche Biedermänner und Steigbügelhalter sich profilieren wollten, weil die NSDAP mit Gewalt, Einschüchterung und Terror die Menschen traktierte, weil Konservative und Nationalisten die Situation falsch einschätzten und weil die republikanischen Kräfte von Anfang an zu wenig dagegenhielten, zu viele Kompromisse eingingen und zwischen die Stühle gerieten. Dies gilt für die Tolerierung Brünings ebenso wie die Unterstützung für die Wiederwahl Hindenburgs. Das Fehlen einer eigenen erfolgversprechenden Strategie gegen die Rechten wurde zum Kennzeichen jener sozialdemokratischen Selbstverleugnung, die in den Faschismus führte. Die Machtergreifung der NSDAP hätte aber nie so stattfinden können, wenn nicht das Regieren über permanente Notverordnungen zu einer Art Gewöhnung an staatliche Gewaltausübung geführt hätte.
Viele kleine Bausteine, Zwänge und Entscheidungen waren es, die das Ende der Demokratie in Deutschland einleiteten. Bisky demonstriert in seinem Buch die Gefährdungen einer politischen Kultur, in der nicht mehr der vernünftige parlamentarische Argumentationsaustausch dominiert, sondern „das System“ grundsätzlich in Frage steht. Eine Gesellschaft, die sich notfalls mit einem „Führer“ homogenisieren will, hat in ihrem Innersten die Pluralitätsakzeptanz und Demokratie an Autokratie und Soldatengehorsam verraten. Sicher ist es politisch leichtfertig, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen. Aber ebenso leichtfertig ist es, die heutige Zeit als eine bloße Wiederholung der späten Weimarer Jahre zu interpretieren. Dem Chronisten Bisky, der schon durch andere viel gewürdigte Geschichtsbücher auf sich aufmerksam machte, kommt es gerade auf die Scharfstellung der Details an. Und die wiederum schärfen die Augen für die Gegenwart und formen den Charakter für eine entsprechende Haltung zur Vergangenheit.
Jens Bisky, Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934, Rowohlt, Berlin 2024, 640 Seiten.


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