Impression Musik aus Frankreich (Juliette Appold)

15. November 2001 Gewandhaus, Großer Saal

L?Impression ? Musik aus Frankreich
Gewandhausorchester, Dirigent: Andrew Litton
Solist: Francois-René Duchable, Klavier

Hector Berlioz (1803-1863)
Le Carnaval romain
Ouverture caractéristique op. 9

Maurice Ravel (1875-1937)
Valses nobles et sentimentales
I. Modéré ? II. Assez lent ? III. Modéré ? IV. Assez animé ? V. Presque lent
VI. Assez vif ? VII. Moins vif ? VIII. Epilogue : Lent

Maurice Ravel
Konzert für Klavier und Orchester G-Dur
I. Allegramente ? II. Adagio assai ? III. Presto

***

Sergej Prokofjew (1891?1953)
Sinfonie Nr. 5 B-Dur op. 10°
I. Andante ? II. Allegro marcato ? III. Adagio ? IV. Allegro giocoso

Weltniveau

Französische Musik, ein russischer Komponist, ein amerikanischer Dirigent, das renommierte Gewandhausorchester ? diese Kombination alleine ist schon vielversprechend. Zusammen mit einem für Leipzig ungewöhnlichen, aber klangvollen und großen Programm ergab sich ein Konzertabend, der Welt-Spitzen-Niveau hatte. Mit Präzision, einheitlich, dynamisch und melodisch immer schlüssig, musikalisch sehr lebendig gestaltet und mit einem Geist oder Atem, der jedes erklungene Musikstück zum Ohren- und Seelen-Schmaus werden ließ, gelang es dem hervorragenden amerikanischen Dirigenten Andrew Litton, das Beste aus dem an diesem Abend exzellent spielendem Gewandhausorchester herauszuholen. Auch bei Ravels Klavierkonzert, das François-René Duchable berauschend spielte, paßte jeder Einsatz des Orchesters. Es wird kaum Worte geben, die das Erlebnis dieses Konzertabends würdig wiedergeben. Dennoch hier ein Versuch der Beschreibung:

Den römischen Karneval hat Berlioz sehr lebendig und kontrastreich komponiert. Schon mit dem ersten Einsatz der Ouvertüre zum römischen Karneval ist klar gewesen, daß dieses Konzert einen besonderen Genuß versprechen würde. Mit schnellen und stürmisch auf- und absteigenden Tonleiterschritten kontrastiert eine getragene, liebevolle und lyrische Melodie des Englisch-Horns, die wie ein ausgleichender Ruhemoment wirkt. Beide Charaktere schlängeln sich durch das Orchester, mal sind sie nacheinander, mal gleichzeitig zu hören, und bei jedem musikalischen Absetzen und Weiterspielen ist es, als ob man von einer Impression erstaunt kurz die Zeit vergißt, dann aber wieder Teil des Karnevals wird und sich im bunten harmonischem Gemenge treiben läßt. Der Höhepunkt des Werks wird nach einem spannungsreichen Aufbau mit einem glänzend-glorreichen Beckenschlag, wirkungsvollem Posaunen-Spiel und lautstarkem Tutti-Einsatz erreicht und läßt das konzentriert zuhörende Publikum in seinen Sitzen merklich aufschrecken. Die Darstellung der Kontraste, der Aufbau von großen dynamischen und agogischen Melodie- und Spannungsbögen, die solistischen Einsätze sind genau so, wie man sie sich von einer exzellenten Interpretation erhofft. Jeder exponierte Moment einzelner Instrumente oder Instrumenten-Gruppen ist feinfühlig, präzise und sauber gespielt. Dem Dirigenten und Musikern ist schon an dieser Stelle ein großes Lob auszusprechen.

Die von Maurice Ravel komponierten Valses nobles et sentimentales zeigen eine Vielfalt von möglichen Charakterzügen des Walzers, und beim Zuhören dieses Werks denkt man, es handele sich um auskomponierte Gedanken, die einem plötzlich bei einem langen Tanz im Dreier-Rhythmus unwillkürlich vorschweben. Der Walzer mit farbenreichen Harmonien und chromatischen Momenten klingt mal breit, warm und wellenförmig, mal impressionistisch oder zurückhaltend, dann schillernd, dann aber auch gedankenversunken und traurig (an die ?Pavane pour une infante défunte? erinnernd), dann wieder aufbauschend ? mal laut, mal leise ? ehe er am Ende ganz zum Stehen kommt. Jede dieser Stimmungen haben die Musiker dem Dirigenten exakt abgenommen und überzeugend an das Publikum weitergegeben, so daß man sich schon auf die nächste Ravel-Komposition freuen konnte.

Mit einem Knall (von Klangstäben gespielt) lädt das Klavierkonzert zum Zuhören ein. Flinke Staccati-Momente, Blechbläser und an Jazz-Musik erinnernde Klarinetten-Motive geben die Lebendigkeit an den Pianisten François-René Duchable weiter, der ? wie im gesamten Klavierkonzert ? klar, präzise, klangvoll und mit Leichtigkeit die Melodielinie aus der Vielzahl seiner zu spielenden Töne hervorbringt. Der zweite Satz ist wie ein langsames Wiegenlied im Dreier-Takt. Die zu erkennende Tonika wird mit liebevollen Dissonanzen umspielt und immer weiter herausgezögert (und im Publikum, auf der Orgelempore, sieht man im Augenblick ihres Erscheinens einen jungen Mann seiner Begleiterin zärtlich den Arm um die Schultern legen).Warme und bisweilen regelrecht stehende Klänge, ruhige solistische Klavier-Passagen, und eine ?berührende Langsamkeit? wiegen den Zuhörer in Träume. Der Dirigent ist auch hier der perfekte Vermittler zwischen Solist und Orchester, zwischen Partitur und intendierter Stimmung. Explosionsartig, gleich dem ersten Satz, erklingt der dritte. Man kann leicht Jahrmarktszenen und Stravinskys Musik zu ?Petrouchka? assoziieren. Der zügige und tonangebende 4/4-Takt wird mit hochvirtuosen Klavier-Momenten, klangintensiven Tutti-Stellen und dynamisch vielfältigen Möglichkeiten von allen Anwesenden im Raum voll ausgekostet. Solist und Orchester ergänzen sich nahezu perfekt, ohne jeglichen Bruch und ohne Funken von Unstimmigkeit. Genau deswegen war dies für mich die beste und feinfühligste Solo-Konzert-Interpretation, die mir bis dato im Gewandhaus zu Ohren gekommen ist. Für den großen Beifall bedankte sich der Solist mit einem virtuosen Walzerstück als Zugabe.

Zum Schluß erklang Prokofjews fünfte Sinfonie. Dunkel klingende Bässe, tiefe Bläser eröffnen das Werk. Streicher spalten sich aus einem Unisono heraus in Höhen und Tiefen, ein großer Klangraum ist geschaffen. Den acht Kontrabässen gelingen unheimlich wirkende, leise Unisono-Momente, und oft hat dieser Eingangssatz etwas sehr spannendes und gleichzeitig Lähmendes. Volle Klänge im Orchester, Trommelwirbel ? an Gewitter-Donner erinnernd ? und scharfe Klänge nehmen das Publikum ganz ein. Auch militärische Klänge ? zeitweilig mit Szenen aus Prokfjews ?Alexander Nevsky? vergleichbar ? sind tatsächlich atemberaubend gespielt. Besonders gelungen ist im zweiten Satz eine immer spannender werdende Entwicklung, die hervorragend dirigiert und interpretiert wird. Bläser nehmen ein Thema auf, das noch recht leise und relativ langsam beginnt. Wie beim langsamen Anfahren einer Lokomotive bildet sich nach und nach ein derartiges Accelerando und Crescendo, in das sich immer mehr Instrumente hineinfinden, so daß man meint, bei einem sich dramatisch entwickelnden Aufstand ?eingesogen? zu werden. Dagegen wirken die 2 gegen 3 Rhythmen im folgenden langsamen Satz als wirkliche Wohltat. Hier schlängeln sich Violinen im typischen ?Prokofjew-Stil? aufwärts, während zuweilen noch militärisch klingende Trommel-Wirbel zu vernehmen sind. Auch hier kommt es zu ergreifenden musikalischen Szenen. Solche sorgfältig und spannungsreich aufgebauten Höhepunkte enden in bedrohlichen Klängen im Tutti zusammen mit dramatischen Gong- und Beckenschlägen ? es verschlägt dem Publikum schier den Atem! Im Vergleich zu den vorangegangenen Sätzen klingt der letzte Satz gelassener. Allegro giocoso. Das Übel oder Böse ist in den Hintergrund getreten. Lyrische Momente bestimmen den Beginn, exponierte Stellen in Klarinette, pulsierende Trompetenklänge und ständig weitergeführte Achtel-Ketten weisen darauf hin, daß es ?weitergeht?. Und wie man es von Prokofjew kennt, werden auch hier ungewöhnliche Kadenzen immer in den einzelnen Stimmen weitergegeben, und enden nie erwartungsgemäß. Das macht einen besonderen Reiz seiner Musik aus.


(Juliette Appold)

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