Georg Büchner, „Lenoce und Lena”, Repertoire (Sarah Rehm)

Georg Büchner, „Lenoce und Lena“, Repertoire (Premiere am 17.03.2001)


DER VEREINSAMTE ZUSCHAUER

„Leonce und Lena“ – Versuch eine Schau zu ergründen

„Im Leben ist es wie in der Musik. Die Kreuze erhöhen.“ Und der Mensch sitzt oben und blickt über die Ebenen der Zuschauerköpfe und bleibt. Da hockt jemand auf der Kante des Kreuzes, das auf die Drehscheibe rücklings genagelt ist, dargeboten wie auf einem Teller schon gegessenen geopferten Fleisches. Es sitzt jemand und bleibt und bleibt und langweilt sich und bleibt. Warum, um Gottes Willen, ist er nicht längst schon geflüchtet? Am Anfang ist das Kreuz, über dem ein tausendgespaltener Spiegel, eine Discokugel, droht, an der Decke und im farblosen weißen Raum, gehalten von einer Schicksalsschnur.
Sich begegnen ist wichtig, über das Wetter sprechen auch, und wer solche Tatsachen aufgezählt sehen will, der platziere sich forsch auf einen Sessel des Schauspielhauses in „Leonce und Lena“; dort werden Witz, der Wahnsinn ist, geboten und Verfallensein in Bahnen von Verharmlosung, Beruhigung und fehlendem Schutz. Hier gibt es ihn nicht, sollte er existieren, so für nichts, der Schutz für den Menschen.

In die Sprache einer gezielten Mitteilung übersetzt, die auf Entgegnung hofft, richtet Leonce sein Anliegen an den von permanenter Erregung gequälten Valerio, ob dieser der Gott sei, auf den alle warten. Aber auch dieses Spiel findet keinen Faden, der aus der Langeweile führen würde. Es sind verschiedene Spielwiesen aufgebaut, deren Wälder zwar gerodet sind, aber immerhin findet das Kind einen Platz, um auf die Nase zu fallen, wie es gemeine Menschen zu prophezeien pflegen: „Du wirst auch noch auf die Nase fliegen, pass auf!“ „Flieg, Leonce, flieg!“ fordert Rosetta ihn auf, als er den Zuckungen eines geistig und körperlich anscheinend Behinderten freien Lauf lässt. Das Publikum muss das wenige Lachen im Zaum halten, während es fühlen mag, dass es Tränen nicht hat.

Von Aufpassen kann man nicht sprechen; man ist nur pausenlos angestrengt von einer Vorstellung, die keine Pause kennt und deren Ende auf den Anfang zurückweist. Der Gedanke Büchners, der schon in der Geschichte des Stückes liegt, in der sich die Figuren gegen die Restriktion durch beliebige Gesetze auflehnen, ist ohne Schonung verstanden, der Ruf Büchners aber nach Aktivität für das Leben ist missachtet worden. Leben und Sprache kommen in der Inszenierung nicht mehr vor, nicht als dramatische Übertreibung, nicht als wortvoller Witz. Sie sind verwirklicht nurmehr als eine Verkürzung auf und ein Verenden in körperlicher Gestalt.

Unbewusst wollen sich die dargestellten Figuren erziehen, indem sie nicht aufhören, aneinander vorbeizureden, sich scheinbar nutzlos bis zur Erschöpfung zu bewegen, zuzusehen, wie der andere vom Leben ermordet wird; sie erziehen uns bestenfalls, die wir vor Anstrengung flehend bitten, dass wir in der nackten brutalen Erziehung durch Entziehung von Liebe nicht enden mögen. Rosetta, die Schöne, malt ein Kunstwerk mit ihrem Blut, nachdem sie mit Leonce auf dem von König Popo betitelten „Hüpfding“ getollt hat. Die nun sich dem Publikum öffnende Ecke des Kreuzes wird farbig, Leonce sieht mit unbeteiligtem Interesse zu, worauf Valerio mit der als nächstes sich zeigenden Ecke wieder zum Vorschein kommt, an dem Kreuz lehnend, leger und provozierend, mit rosa Brillengläsern, damit er das schon räumlich verewigte Blut nicht sieht. Niemand fühlt sich wirklich irgendwann angesprochen, keiner ist fähig zu einer Reaktion, die eine Antwort auf die Aktion wäre. Der Umgang miteinander verfällt in einem Mittelmaß, das in seiner schockierenden, den Zuschauer betreffenden Echtheit mit starkem Charakter gespielt wird. So also reden wir miteinander, so also sterben wir dann gelangweilt an uns selbst.

Während des Niederschreibens lausche ich dem Text eines Liedes und der Zeile, die mich denken lässt, dass Theater, wenn es so wie an diesem Abend durchlebt wird, zumindest den Geist noch zum Fliegen bringt – aber nur durch Entsetzen und Ermüdung gedrängt. Wohingegen die Sängerin des Liedes erkennt: „My mother never told me I could fly.“ Hat Büchner nun an einen Flug über Bühnen, an ein Treffen entmündigter Körper auf diese Weise gedacht? Haben wir diesen Fortgang gewollt und die Flucht? Leonce und Lena fliehen vor der Verheiratung miteinander, ohne voneinander zu wissen, da ein König herrscht, der äußert: „Nein, ich rede!“, der im Wesentlichen aber nicht spricht. Vor einer solchen Verleugnung des Wesens eilen die jungen Menschen davon, um einander hierdurch zu treffen und nicht zu bemerken, dass sie sich wieder verleugnen werden.

Das Kreuz erhöht höchstens die Verwirrung der sich Begegnenden. Er brauche keine Liebe, sagt Leonce zu Rosetta, es sei der Eindruck, der zählt. Deshalb schreibt diese auch mit Wucht ein Gebet in die eine Ecke des Kreuzes. Zuvor schreit sie ihn schrill an: „Hör auf, hör auf, hör auf!“, immer wieder, ohne dadurch seine Langeweile vertreiben zu können. Ein jeder sucht hier nach Sprache, aber befriedigt das Bedürfnis der Suche nicht, da jeder der Sucht nach Selbstdarstellung verfallen ist. Das Zusammenspiel erweist sich als verstörendes Vorkommnis alltäglich beobachteter Szenen voller Grauen und Melancholie in den künstlich erzeugten Welten von TV und Musikvideo.

Die Figuren der Inszenierung sind alle als behindert gezeichnet. Kann man das machen?!? Hinzu kommt noch die körperliche Selbstverleugnung der Figuren, die alle irgendwie bluten, aber ihr Blut doch nicht zugeben. So kann auch ihr materielles Sein sie nicht wahrhaftig beschäftigen. Das Geheimnis ist: Die Figuren des modernen „Leonce und Lena“ sind seelisch beschränkt und versuchen dies auf die ihnen einst vertraute, dem Körper und dem Geist doch eigentlich bekannte Weise mitzuteilen.

Szenen, die mich noch beschäftigen, sind die wiederholten skurril bemühten Läufe des Hofbeamten und Valerios über das „Hüpfding“ entlang des Bühnenrandes, auftauchend und verschwindend, als hoffnungslose und als Ausweg aus der Langeweile doch hoffnungsvoll betriebene Versuche, wenigstens die zeitliche Vergängnis des Lebens zu bewältigen. Oder: die Gouvernante, die der Macht des Kreuzes mit Stöckelschuhen zu entfliehen versucht. Und: das andauernde Klettern über daliegende Pfeiler des zäh rotierenden Kreuzes ohne wirklichen Sinn, da der Weg doch zum Ausgangspunkt führen wird, an dem das Stück abrupt abbricht.

Handeln und Sein sind in den Figuren gespalten. Die Gewalten des Reiches sind nicht geteilt, zu einem Aufstand wäre nicht das Bedürfnis, aber die Seelen der Menschen sind zerstückelt, überreif zum unnatürlichen Rückzug in den bruchhaften Gebrauch von Urlauten, mit denen eifernd und rechthaberisch kommuniziert wird. Verstört möchte man eine Bombe werfen in Stumpfsinn und Apathie, die nicht echt, aber leider ernst gemeint sind, weswegen sie sich nicht verleugnen lassen. Wie auch? Das Chaos, die Zerstreuung, die Vehemenz, mit der ohne Rast alles schwingt und zerbirst, überfordern den, der dies alles nicht in seinem Inneren wiedererkennt. Leonce und Lena sind auf der Flucht vor sich selbst. Und wir haben, wenn wir nicht Acht geben, am Tag nach der Aufführung diesen Teil unserer selbst wieder vergessen. Das ist das eigentlich Erschreckende.

(Sarah Rehm)

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