„Martha … Martha” bei den 8. Französischen Filmtagen vom 28.11.- 04.12.2002 in Leipzig/Halle (Anja Szymanski)

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R: Sandrine Veysset (Gibt es zu Weihnachten Schnee?, F 1996, Victor – als es zu spät war, F 1998), Frankreich 2001
mit Valerie Donzelli, Yann Goven, Lucie Regnier,
95 min, OmU, naTo
Dem Bedürfnis nach Trost gewidmet…

Am Anfang ist die Unruhe. Dieses Weggehen, dieses Abwenden von denen, die uns die Nächsten sind. Was sich in Unzufriedenheit mit äußeren Umständen ausdrückt, ist der Beginn der Sehnsucht, endlich innerlich komplett und heil zu werden.

Martha und Raymond sind fliegende Händler. In ihrem vollgestopften Auto ziehen sie von Markt zu Markt, verkaufen gebrauchte Hemden, Hosen und andere second-hand Klamotten. Abends kehren sie zurück in die winzige Wohnung, um ihre kleine Tochter Lisette ins Bett zu bringen und sich zu streiten. Raymond ist ein liebevoller Mann, der Marthas Unzufriedenheit mit dem „Kaff“, ihren verhärteten Umgang mit der Kleinen, ihre Wünsche, die reiche Schwester in Spanien zu besuchen und die Szenen unterdrückter Emotionen und ungeklärten Hasses, die sich ebenda abspielen, mit Besorgnis und Geduld erträgt. Bis Martha verschwindet. Nach einer brutalen ausschweifenden Nacht kehrt sie nicht zurück. Raymond und Lisette sind allein.

Es ist die Stärke des französischen Kinos, die emotionalen und körperlich-erotischen Zustände und Unabgeschlossenheiten zu zeigen, die aus den vielfältigen menschlichen Beziehungen entstehen. Mit den französischen Filmtagen öffnet sich der ernüchternde Vorhang zur Realität.

Mit großer Zärtlichkeit und Rücksicht wird hier jedoch nicht vorrangig die Befindlichkeit einer jungen Frau, sondern eher die Kindheit eines kleinen Mädchens erzählt, deren Leiden an dem inneren Zerbrechen der Mutter seinen Anfang nimmt. Raymond ist als Vater ganz für das Mädchen da, voller Ohnmacht und Verzweiflung. Die Zweierbeziehung zwischen dem sich zurücknehmenden Manne und dem kleinen Kinde, die über weite Strecken den Film in seiner poetischen Tiefe bestimmt, ist Ausdruck des unerträglichen Fehlens von Martha, Ausdruck eines Mangels, einer unsäglichen Leere.

Sandrine Veysset, geb. 1967 („Ich wollte es roh, nicht geschliffen, nicht poliert.“), setzt ganz auf die wunderbaren Schauspieler (erschreckend realistisch die kleine Lucie Regnier) und die authentische Bunt- und Grellheit, die den Vorhang der Wirklichkeit noch weiter zurückziehen läßt. Zwar wird der Zuschauer mit den nur angedeuteten Ursachen für Marthas eisige Todessehnsucht alleingelassen (familiäre, vor allem mütterliche Kälte). In diesem Fall aber erhöht auch das die Authentizität, denn die Ursachen von innerer Qual zu erforschen, gelingt „im echten Leben“ tatsächlich nur in wenigen Fällen. Vielmehr ist das Sichtbarmachen des unvermeidbaren Übertragens von unlösbar gebliebenen Leiden der Erwachsenen auf die Kinder ein besonderes Anliegen des Filmes. In beklemmender Atmosphäre, inmitten der schönsten französischen Landschaft (die Mutter, durchsichtig und entrückt, ist nach Monaten wieder bei Raymond und Lisette), klärt sich Marthas schönes Gesicht auf und wendet sich dem Mädchen zu: “ Lise, ich möchte Dir nie mehr wehtun…“ Lisette vergräbt das Gesicht auf ihrem Schoß, „aber Maman, Du hast mir nie wehgetan – ehrlich.“

In seiner porträthaften Dichte und berührenden Zärtlichkeit ist dieser Film unser aller Bedürfnis nach Trost gewidmet.(Anja Szymanski)

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