Was bleibt von einer Schlange, wenn sie sich vom Schwanze aus selber frisst?

Terezia Mora liest aus dem Buch „Minutennovellen“ von Istvan Örkeny

Als ich meinem Freund Laszlo erzählte, dass ich zu der Lesung „Minutennovellen“ gehen würde, verfasst von seinem Landsmann Istvan Örkeny, machte Laszlo mich noch neugieriger auf das, was mich erwarten sollte. Denn seine Bewunderung für diesen Autoren und insbesondere für dessen „Minutennovellen“ zeigte sich in seiner starken Enttäuschung darüber, dass er keine Zeit haben würde, mich zu begleiten.

Ich gehe also alleine zu der Vorstellung. Wahrscheinlich gehöre ich zu der Hälfte der Zuschauer, die des Ungarischen nicht mächtig und deshalb sehr froh sind, die „Minutennovellen“ von Terezia Mora, Übersetzerin des Buches und selbst Autorin, in exzellentem Deutsch vorgetragen zu bekommen. Aus dem Stegreif trägt sie die erste Minutennovelle vor.

Lebensminuten: Ihr erster und einziger Erfolg ist die Geburt gewesen, denn sie war ein so schönes Baby gewesen, dass der Chefarzt sie durch die ganze Klinik getragen hat, um allen dieses vollkommene, kleine menschliche Wesen zu zeigen. Das war vor dem Krieg. Danach entpuppte sich ihr Leben als eine einzigartige, fortwährende Dekadenz. Der Krieg unterbrach ihre Ausbildung, führte sie in Kriegsdienst, Gefangenschaft und Arbeitslager. Nach dem Krieg folgte sie dem väterlichen Wunsch und studierte Pharmazie. Nie aber hatte sie genügend Zeit für ihren größten Wunsch – das Schreiben. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als heimlich und in wenigen Stunden zu schreiben. Hastig schreibend merkte sie, obwohl sie sich auf das Wesentliche konzentrierte, wie sie Stück für Stück von ihrer anfänglichen Vollkommenheit und ihrem Glanz verlor …

Terezia Mora stellt sofort klar, dass dies nicht ihre Geschichte ist, sondern die des verstorbenen Autoren, dessen Bild man im Saal aufgehängt hat. Ihre enge Beziehung zu seinen Texten spiegelt sich teils in der auswendigen Rezitation wieder, teils in der emotionsgeladenen Vortragsweise. Mit Enthusiasmus bringt Mora uns Zuhörern weitere Minutennovellen nahe und führt uns in eine Welt der einfachen Sprache ein, die verbunden zu ungewöhnlichen Metaphern eine zweite surrealistische Welt aufdeckt. Hier verwandeln sich kurze, lustig anmutende Erzählungen zu symbolträchtigen und bedeutungsschweren Aphorismen von philosophischer Tiefe, die zum Innehalten und Nachdenken auffordern.

Doch viel Muße für Gedanken bleibt während der Lesung leider nicht. Eine Minutennovelle jagt die andere, ohne dass Mora dem Publikum Zeit zum Verweilen lässt. In der Novelle Das Lied erzählt ein Soldat von seinem einstigen Kameraden, der unentwegt einfache Lieder dichten und komponieren konnte. Dieser Kamerad wird von einer feindlichen Kugel tödlich getroffen, während er ein neues Lied reimt. Der überlebende Soldat kann das unvollkommene Lied seines Kameraden nicht vergessen und kann es trotz großer Bemühungen nicht zu Ende dichten. Die Erinnerung mündet in die Einsicht, dass jeder Mensch eine einmalige, unnachahmbare Qualität besitze. Noch bevor wir Zuhörer diesen Schluss auf die Novelle zurückbeziehen können, werden wir Zeugen eines grotesk anmutenden Gesprächs zwischen einem Adjutanten, seinem Leutnant und Oberleutnant. Es findet Hinter der Front statt, so lautet auch der Titel dieser Novelle. Der Adjutant versucht seinen Oberleutnant mittels Schwärmereien von den körperlichen Vorzügen der weiblichen Protagonistin Stella davon zu überzeugen, einen Roman zu lesen.

Und so geht es in einem fort. Mora unterteilt die Novellen in Kriegsnovellen, frühe Novellen und grotesk-absurde Novellen, so dass uns Zuhörern die Themenvielfalt des Autoren bewusst wird. Nach einer guten Dreiviertelstunde beendet Mora unter freundlichem Beifall ihre Lesung. Zeit für Fragen wird uns Zuschauern nicht eingeräumt, so als ob der Autor uns allen so bekannt sei wie ein Schulfreund.

Aber vielleicht soll der nun dargebotene Film Familie Toth vom Regisseur Zoltán Fábri unsere Fragen beantworten. Der Film erzählt ein Märchen aus dem 20. Jahrhundert, das sich während des Krieges in einer Familie namens Toth zuträgt. Vater Lajos Toth ist Beamter bei der Bahn, seine Frau und Tochter, ein verträumter Backfisch, verrichten alle Hausfrauentätigkeiten. Alles ist in bester bürgerlicher Ordnung, nur dass der erwachsene Sohn Gyula als Soldat der Armee dient und man um sein Leben fürchten muss.

Bis eines Tages der Major des Sohnes zu ihnen zur Erholung geschickt wird. Die Familie hofft, ihre gutbürgerliche Ordnung wieder vollkommen herstellen zu können, indem sie durch ihr gastfreundschaftliches Verhalten Vergünstigungen für Gyula bewirken. Doch schon bald entpuppt sich ihr Vorhaben als Martyrium. Denn der Major ist vom Krieg psychisch deformiert. Die Familie liest ihm jeden Wunsch von den Lippen ab und behandelt ihn wie einen König. Da der Major wegen seiner Wahnvorstellungen unter Schlafstörungen leidet, leisten sie ihm nächtelang Gesellschaft. Um ihn zu beschäftigen, zeigen sie ihm, wie sie Kartons für eine Hilfsorganisation zuschneiden und zusammenfalten. Für diese Tätigkeit entwickelt der Major einen unglaublichen Enthusiasmus und ordnet der Familie an, ihm dabei jede Nacht zu helfen. Er bemerkt nicht, dass die Anzahl der von ihnen produzierten Kartons jegliches Maß übersteigt. Haus und Garten sind voll von gestapelten Kartons.

Das einzige, was der Major bemerkt, ist die Müdigkeit Lajos‘. Während die Frauen gequält Kartons falten, kann Lajos sein Gähnen nicht unterdrücken. Er schläft ein, fällt sogar unter den Tisch, wodurch er sich den Zorn des Majors zuzieht. Obwohl sich Lajos bemüht, den Wünschen des kranken Gastes nachzukommen, ergreift die Müdigkeit mehr und mehr Besitz von ihm. Der Konflikt spitzt sich zu: Der Major droht, die Toths zu verlassen, weil sich Lajos ihm gegenüber nicht würdig zeigt. Lajos beschwichtigt den Major und kämpft gegen sein Schlafbedürfnis. Unter Protest willigt Lajos sogar ein, einen ovalen Gegenstand in den Mund zu nehmen, der ihn am Gähnen hindert.

Doch hier verkehrt sich die Welt. Der Major fühlt sich erholt und gesund, Lajos jedoch scheint ernsthaft erkrankt zu sein: Er will niemanden sprechen und schließt sich den Tag über auf dem Plumpsklo ein, bis sich der Major seiner erbarmt und ihn fragt, warum er den ganzen Tag in der Toilette verbringe. Lajos‘ Antwort ist, hier sei es so angenehm ruhig und er verspüre an diesem Ort eine Geborgenheit wie in Mutters Schoß. Gleichzeitig stellt diese Antwort ihn mit dem Major auf eine Stufe; beide sind sie psychisch Deformierte – der eine durch den Krieg, der andere durch seine bürgerliche Ordnung. Die Tage bis zur Abreise des Majors kann die Familie endlich in Harmonie mit dem Gast verbringen.

Mit der Abreise des Majors atmet die Familie auf. Sie befreit Haus und Garten von den Kartons, stellt im Haus die alte Ordnung wieder her und genießt die neue „alte“ Ruhe. Bis der Major aufs Neue erscheint. Eine Brücke sei gesprengt, deshalb müsse er noch einige Tage bleiben, sie könnten sofort mit dem Kartonschneiden beginnen. Untertänigst bittet Lajos den Major hinter das Haus, um das Schneidebrett ins Haus zurückzuholen. Dazu kommt es nicht, denn Lajos zerteilt den Major vor Wut in vier Teile. Erst danach erfährt die Familie, daß ihr Martyrium sinnlos war, weil Gyula längst gefallen ist.

Wie die Minutennovellen hat das Märchen keinen belehrenden Charakter. Die Parodie, mit der Tabri Zoltan es inszeniert, negiert diese typische Eigenschaft. Örkeny wendet sich mit seinem Roman vielmehr kritisch an sich und seine Rezipienten, indem er menschliche Verhaltensformen überzogen darstellt und gleichzeitig die Fragen in den Raum stellt:

Was bleibt von einer Schlange, wenn sie sich vom Schwanze aus selber frisst?
Ein Loch, ein Nichts oder …?
Gibt es eine Macht auf der Welt, die den Menschen zwingen kann,
seine menschliche Würde hinunterzuschlucken?

Mit solchen Fragen werden wir entlassen. Ein anschließendes Forum mit der Möglichkeit zur Diskussion hätte die Lesung sicher gehaltvoller werden lassen. Vielleicht kann ich das ja mit meinem Freund Lazlo nachholen. Ich hoffe, die anderen Zuschauer, falls sie sich noch nicht intensiv mit Istvan Örkeny beschäftigt haben, kennen auch einen Lazlo.

Terezia Mora liest aus dem Buch „Minutennovellen“ von Istvan Örkeny

Vorführung der Verfilmung des Romans „Familie Toth“ (OmU)

20. März 2003, Passage-Kinos

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