Die Mythen unserer Kultur mit Shakespeare betrachtet: Berlioz\‘ „Die Trojaner” weiterhin im Spielplan (Sebastian Schmideler)

Hector Berlioz
Die Trojaner / Les Troyens
Große Oper in fünf Akten
Libretto vom Komponisten nach Vergils Aeneis

Musikalische Leitung: Peter Hirsch
Inszenierung: Guy Joosten
Bühne: Johannes Leiacker
Kostüme: Jorge Jara
Choreographie: Andrew George
Choreinstudierung: Anton Tremmel

Chor der Oper Leipzig
Chor und Ballett der Musikalischen Komödie
Gewandhausorchester
(Premiere am 29.11.2003)
Wiederaufführung am 18.3.2005

Fotos: Andreas Birkigt


Rückkehr des Mythos‘
Berlioz‘ Les Troyens dreimal im Programm

Ausgerechnet zur Buchmesse spielt die Oper ihren Trumpf aus. Und doch hätte kein Datum für die vom Intendanten versprochene Rückkehr des alten ernsten Mythos‘ von Vergil in Gestalt von Berlioz‘ Trojanern in den laufenden Spielplan passender gewählt sein können als das des Leipziger Medienrummels um die neuere und neueste Literatur. Denn droht der unersättlich und immer hastiger nach Neuerscheinungen gierigen Öffentlichkeit trotz der Flut an Biografien und unterhaltenden historischen Romanen nicht gerade darum mehr und mehr atemlose Geschichtsvergessenheit? Wo im Europa der Beschleunigung ist man sich heute noch wirklich darüber bewusst, dass sich die Kunst des abendländischen Kulturkreises auf Mythen gründet, die im Laufe der Zeit auf verschiedene Weise variiert, durchgespielt, in immer andere Kontraste und Formen konzentriert wurden? Die Oper könnte, wo sie nicht selbst zum Bestandteil jener Entwicklung avanciert, vielleicht eine der Bastionen sein, die den Kontakt zu dieser Tradition der Vergangenheit auf plausible Weise am Leben erhält.

Insofern ist Guy Joostens Trojaner-Inszenierung die interessanteste herausragende Interpretation aus dem Leipziger Opernhaus in der letzten Zeit, die auch dem buchgestressten auswärtigen Messepublikum am 18. März bedenkenlos ans Herz gelegt werden konnte. Denn Joosten gelingt eine konzise tour d’horizon durch die europäische Theatergeschichte, die Schauwert mit Tiefsinn verbindet.

Es geht nicht nur um die mythologischen Wurzeln unserer Kultur sondern mehr noch um die Geschichte dessen, was aus diesen Wurzeln innerhalb der sich entwickelnden Kunstepochen geworden ist. Griechisches Tragödientheater im Kassandra-Akt, allegorisch bunt-mittelalterliches Marktspektakel-Theater mit Anlehnungen an Hieronymus Bosch in der ersten Dido-Episode, barock-klassische Muschelgrotte wie bei Gluck im Liebes-Akt zwischen Dido und Äneas, Brechtscher Verfremdungseffekt frei nach Mutter Courage und moderne Multimedia-Dimensionen im Off-Theater in der Sterbeszene Didos im letzten Akt der zweiteiligen Oper laden das Publikum ein, aus der bequemen Konsumentenhaltung auszubrechen und Verbindungslinien zwischen dem Gehörten und Gesehenen zu knüpfen und damit Geschichtsbewusstsein zu entwickeln, das über die bloße Kenntnis des Ursprungsmythos‘ hinausweist.

Das alle diese Kunstepochen unaufdringlich, ja reduziert vermittelnde Bühnenbild von Johannes Leiacker, das überdies geschickt und illusionsreich mit Lichteffekten, künstlichen Sonnen und pyrotechnischen Effekten arbeitet (Lichtdesign Davy Cunningham), kommt dabei fast völlig ohne oberflächliche Opulenz oder Artistik aus. Denn der Dreh- und Angelpunkt, um den sich die Achse von Joostens bunter Theaterwelt dreht, ist – ganz im Sinn von Berlioz: Shakespeare. Er ist neben Vergil (und natürlich Berlioz selbst) der Atlas, auf dessen Schultern die Inszenierung ruht, die angefangen von der parodistisch-heiteren Komik des Hofdichters Iopas bis hin zum tragischen Liebestod der Dido und dem suggestiven Massensuizid der Trojanerinnen im Kassandra-Akt alle denkbaren Formen und Spielarten des Theaters symbolhaltig durchführt und überdies das Motiv der rastlosen Reise durch Raum und Zeit als Sinnbild einer romantischen Lebenserfüllung gestaltet. Und zum Romantischen passen die modern wirkenden dämonisch-triebhaften Abgründe und durchaus auch die etwas plakativen Obszönitäten, die sich in Joostens Inszenierung ähnlich wie in seiner „Freischütz“-Interpretation allenthalben auftun. Doch lebt die Dramatik der Inszenierung nicht zuletzt von den assoziationsreichen und kreativen Schöpfungen des Kostümbildners Jorge Jara. Die vitalisierten Fantasiegeschöpfe, Gnomen und Höllengeister aus dem „Narrenschiff“ von Bosch bleiben in lebendiger Erinnerung, und kaum einer wird die schwarzen Trauerüberwürfe der wie dunkle Flecken wirkenden Trojanerinnen auf den weißen Stufen des griechischen Theaters, ihre kurz vor dem kollektiven Freitod rot gefärbten Hände, ihre entschlossen empor gerissenen Arme so schnell vergessen. Auch Didos Sterben als Medienereignis bleibt zweifellos als Symbol in der Erinnerung des Zuschauers haften, das einmal mehr beweist, wie sehr Joosten sein Handwerk versteht.

Ein Leipziger Kritiker hat seinerzeit von einem untauglichen Regie-Konzept gesprochen. Aber ist Joostens Arbeit nicht vielmehr ein beeindruckender und schlüssiger Beweis dafür, was Musiktheater im besten, damit auch Shakespeareschen Sinn leisten kann? Was es mit der Absicht, die Welt in nuce abzubilden, innerhalb von vier Stunden an bunten, aber verknüpften Einfällen, an Vielfalt und Varianz von Struktur, Form und Idee entwickeln kann? Zeigt diese Inszenierung nicht, wie berückend und sinnvoll Bilder im Verein mit Musikdramatik wirken können?

Natürlich leben die monumentalen Trojaner zuerst von der Musik, den Chören, den großen Titelpartien. Aber auch hier gibt es in Leipzig an diesem 18. März viel Anlass zum Staunen. Nach ein paar anfänglichen Unebenheiten vor allem bei Intonation und Rhythmik schwingen sich die Chöre der Oper Leipzig und der Musikalischen Komödie zu beachtlichen und den ganzen Saal erfüllenden monumentalen Effekten auf. Berlioz schwebten zwei- bis dreihundert Choristen für seine Chorpartien vor. Dem mit deutlich weniger Personal auskommenden Leipziger Chor gelingt jedoch ungeachtet dessen ein wuchtig-farbiges Fortissimo von einer räumlich-dynamischen Breite und einer feurigen Ausdruckskraft, die der Illusion der geforderten Sängeranzahl ziemlich nahe rückt.

Der Frauenchor im Kassandra-Akt ist ganz zweifellos einer der Höhepunkte dieser Aufführung und besticht nicht nur durch die gelungene Choreografie, der effektvollen musikdramatischen Umsetzung von Berlioz, sondern auch durch gute Intonation und folgerichtige musikalisch-dynamische und rhythmische Entwicklung, auch wenn Peter Hirsch am Pult des Gewandhausorchesters bisweilen etwas drängte.

Unter den Titelpartien ragen einige Leistungen besonders heraus. Unvergleichlich tapfer, sicher und diszipliniert arbeitete sich Robert Chafin durch die anstrengende Partie des Äneas und leistete in jeder Hinsicht sehr Gutes. Wer eine solche Rolle mit derart konzentrierter Aufgeräumtheit und Kraftfülle der Stimme durchhält, verdient uneingeschränkten Respekt. Sue Patchell als prophetisch-altersweise Kassandra formte ihre Partie sicher, klar und makellos. Etwas indisponiert diesmal Tommi Hakala als Chorebus, gewohnt kraftvoll und sicher intoniert James Moellenhoff als Narbal, ebenso Ceri Williams als Anna.

Cornelia Helfricht als Dido schlug sie alle, denn sie spielt und singt die dankbare Rolle aus, mit aller Konsequenz, mit der wünschenswerten Bühnenpräsenz, mit kleinen, gemessenen Gesten, mit einer fulminanten, vollen und ausdauernden Stimme in einem angenehmen, recht warmen Ton. Entscheidend ist dabei, dass Cornelia Helfricht das Ineinander von Liebe und Leid auf überaus berückende Weise mit ihrer Ausdrucksstärke plausibel zu machen versteht, indem sie die Rolle nicht nur singt, sondern spielend-dramatisch entwickelt. Nicht einmal immer nur mit der Reinheit der Töne erzeugt sie den notwendigen Effekt, der den Hörer an diesem Charakter fesselt. Sondern wie sie die Töne melodramatisch ausspielt, ist das, was an dieser Interpretation beeindruckt. Eine durch ihre Stimmigkeit und die gelungene Verbindung von dezent abgemessenem Spiel und musikdramatischen Gesang hervorragende Interpretation.

Als Gesamteindruck von der Berliozschen Musik bleibt nur festzuhalten, dass sich nicht genug darüber staunen lässt, wie ein Mensch, ein faustischer Charakter des 19. Jahrhunderts in all seiner extremen Zerrissenheit derart modern und gegenwärtig wirken kann. Das ist und bleibt das größte Rätsel an diesen Trojanern.

(Sebastian Schmideler)

Weitere Aufführungen: 2. April, 5. Mai 2005

Lesen Sie auch die Rezension zu Les Troyens von Marcus Erb-Szymanski, erschienen zur Wiederaufführung im Dezember 2003.

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