Ausflug in die Tage der Vergangenheit

Ein Gewandhausabend mit Wladimir Fedosejew: Ravel, Guilmant und Schostakowitsch

Unbeteiligt schlurft er zum Dirigentenpult. So, als hätte er im Gewandhausfoyer gerade seinen Koffer abgestellt. Schwups, die Brille auf, ein Blick in die Partitur, und schon saust der Stab zum Einsatz nieder. Wladimir Fedosejew, einstiger Titan im Spätherbst der sowjetischen Kulturavantgarde, leert den Kelch des künstlerischen Understatements bis zur Neige. Allenfalls das Programm erinnert an die glanzvollen Tage mit dem Fernseh- und Radiosinfonieorchester der UdSSR. Spätromantischer Schwulst wabert durch diesen Gewandhausabend: Ravels „Gaspard de la Nuit“ und eine unbekannte Orgelsymphonie von Alexandre Guilmant. Abkühlung verspricht Schostakowitschs neunte Symphonie.

Fedosejew jedoch nimmt sein Programm beim Wort. Ravels „Gaspard de la Nuit“ – das könnte auch er selber sein. Ein trauriges Kasperle auf nächtlicher Reise, mit ausgefeilter Schlagtechnik und eingefahrenen Gesten. Ravels Vertonung der expressiven Gedichte von Aloysius Bertrand – ein überweiches Plüschsofa, in das der Glinka-Preisträger hineinplumpst, ohne von den Früchten der impressionistischen Klang- und Farbenwelt auch nur zu kosten. Es bleibt kaum Zeit, um nach Luft zu schnappen, dynamische Spannung aufzubauen. Breit und pastig quellen die Themen hervor. Pianissimo beginnt an diesem Abend beim mezzoforte – und fortissimo, wenn der reichbestückte Schlagapparat hineinrumpelt, -klirrt und -donnert, daß die Röhrenglocken nur so fliegen.

Was das Trommelfell so alles aushält, harrt dann aber einer noch viel staunenswürdigeren Probe aufs Exempel. Fedosejews Darbietung der ersten Orgelsymphonie von Alexandre Guilmant zeigt schnell, warum dieses Werk allenfalls zu den historischen Apercus der Spätromantik zu zählen ist. Was dem schwülstigen Opus an musikalischer Substanz ermangelt, versucht Michael Schönheit an der Orgel durch großenteils ausladende Registrierung wettzumachen. Apotheotisches Unisono, neoklassizistisches Virtuosen-Gehampel und schmachtendes Weihnachtsmarkt- Georgel gewinnen jedoch nur wenig durch den Versuch, den verdutzten Hörer aus dem Saal hinauszupusten. Fedosejew kann das nicht verdrießen. Gleichmütig entläßt er das geplättete Publikum in die Pause.

Eigentlich muß nun alles besser werden. Die neunte Symphonie von Schostakowitsch jedenfalls ist eine entschiedene Absage an das romantische Pathos. Eine Absage an den sowjetischen Kulturapparat, der sich die Neunte bereits in leuchtenden Farben als Symphonie des stalinistischen Triumphes ausgemalt hatte. Die burleske Komik dieses Werkes, der unverhüllte Schalk, mit dem Schostakowitsch der sowjetischen Staatskunst eine Nase dreht, – all das hätte für das bombastische Vorprogramm reichlich entschädigen können. Fedosejew jedoch vollbringt das bemerkenswerte Kunststück, auch diese straffe Kammersymphonie mit romantischem Quast zu drapieren. Nicht nur, daß zunächst ein Schmachtfetzen aus Schostakowitsch‘ Filmmusik-Kiste auf das Kommende einstimmt. Nein, auch die leeren Posaunensignale der Neunten, das kabarettistische Schlagzeuggeschrammel klingen bei Fedosejew, als sei alles bitter ernst gemeint. Die herrlich gespielten Piccolo-Schalmeien und die chromatische Holzbläser-Komik kommen unter die Räder des überbesetzten Orchesters. Blech und Schlagzeug dürfen ohnehin lärmen, wie sie wollen. So verwirrt sich auch der federleichte Schostakowitsch im Tüll der selig rumpelnden Klangmaschine. Am Ende bleibt Müdigkeit. Fedosejew nimmt die Brille ab – und den Leipziger Jubel entgegen. Understatement bis in die letzte Handbewegung. Aus das Konzert. Draußen wartet der Koffer. Ab geht’s zum nächsten Engagement. Fedosejew ist der selbstvergessene Musikant eines untergegangenen Imperiums. Einer, der im Vergangenen zu leben scheint und in der Gegenwart den Taktstock schwingt. Seine Tonsprache ist eine vergessene Sprache. In Leipzig wußte er mit ihr vergessen geglaubte Gefühle zu wecken. Ein Kasperle in der Nacht.

WLADIMIR FEDOSEJEW
MICHAEL SCHÖNHEIT, Orgel

Gewandhausorchester

Maurice Ravel, Gaspard de la Nuit (Instrumentierung von Marius Konstant)
Alexandre Guilmant , 1. Sinfonie für Orgel und Streicher op. 42
Dmitri Schostakowitsch, Romanze aus „The Gadfly“ op. 97, 9. Sinfonie op. 70
Kasperle in der Nacht
09. Februar 2001, Gewandhaus, Großer Saal

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.