17. März 2001
Schauspielhaus Leipzig
Premiere: Georg Büchner: Leonce und Lena
Spieldauer: 90 min.
Personen:
König Peter – Christoph Hohmann
Leonce – Oliver Kraushaar
Lena – Liv-Juliane Barine
Valerio – Jörn Knebel
Gouvernante – Ellen Hellwig
Hofbeamter – Günter Schoßböck
Rosetta – Isabel Schosnig
Regie: Michael Thalheimer
Bühne: Olaf Altmann
Eine Endlosdrehung im Reich Popo
Die Bühne – ein riesiges Drehkreuz, auf dessen mauergleichen Flügeln man gehen, stehen, sitzen kann – präsentiert sich, ehe das Spiel beginnt, zurückhaltend in hellem Beige vor himmelblauem Grund. Am Theaterhimmel flimmert einsam eine Kugel – eine Ampel vielleicht oder der silberne Mond aus dem zweiten Akt?! Welch unzeitgemäßer Gedanke! Sowie Leonce im hellblauen Anzug oben auf der Mauerkrone erscheint und langsam auf das Publikum zuschreitet, sowie der höllische Sound einer hämmernden Diskomusik den Zuschauer an den Polstersitz nagelt und die Silberkugel an einem Himmel zu schillern beginnt, an dem nicht Wolken, sondern poppige Farben und gigantische Fernsehbilder einander jagen, ist alles klar: wir befinden uns nicht im Königsländle Popo, wir sind ganz unter uns – mit unseren unverzichtbaren Flimmerbildern und Mikrofonen. Etwas verloren boxt da oben ein junger Mann den Rhythmus (oder schlägt er den Takt?), bricht plötzlich resigniert ab und sagt: „Mir ist total langweilig.“ Das ist zwar nicht von Büchner, aber es spricht nicht gegen sein Stück. Der Hofbeamte tritt auf – eine elegant in Beige gekleidete Person mit einem dünnen Chinesenzopf, in der Hofmeister, Präsident, zwei Kammerdiener, der Zeremonienmeister, verschiedene Bediente und der Hofprediger subsumiert sind. Er hat vor allem die Aufgabe, mit allerlei Pantomimekünsten die Aufmerksamkeit der „Hoheit“ zu erregen, „König“ Peter bei Laune zu halten und bei Auftritten und Abgängen über das „glatte Hofparkett“ – hier der mit dickem Schaumgummi ausgelegte Bühnenrand – zu straucheln, zu fallen und mit unbewegter Miene die sich aufrichtenden Hindernisse (aus unwägbarem Schaumgummi) zu bezwingen. Da das Gespräch zwischen ihm und Leonce binnen kurzem erstirbt, setzt dieser die Unterhaltung allein mit dem Feuerlöscher fort und schäumt den Beamten schließlich von Kopf bis Fuß ein. Musik. Drehung.
Leonce sitzt mit dem Gesicht zur Flimmerwand auf dem Drehkreuz und schreit seinen Überdruß an einem Leben heraus, das in Langeweile erstarrt ist, in dem sich jeder auf seine Art abplackt, um der Langeweile zu entrinnen, und wo selbst Heilige, Helden oder Familienväter nichts anderes sind als „raffinierte Müßiggänger“, die sich allerdings furchtbar wichtig nehmen. „Oh, wer einmal jemand anders sein könnte!“ Musik. Drehung.
Auf das Stichwort erscheint Valerio (in beigem Anzug mit Schlips), ein liebenswerter Narr mit einem winzigen Tick – einem leichten Stottern und schmerzvollen Zucken um den Mund -, der ihm etwas rührend Hilfloses verleiht (gut gespielt von Jörn Knebel). Hingerissen von diesem Fremden, seinem Witz und seinem Tick, verfällt Leonce auf einen neuen Zeitvertreib: das Idiot-Spielen. Mit den Worten: „Bist du einer von den Göttlichen, welche mühelos mit reiner Stirn… über die Heerstraße des Lebens wandeln und mit glänzenden Sohlen und blühenden Leibern gleich seligen Göttern in den Olympus treten?“ trägt er Valerio aus dem Bild. Es ist vielleicht die stärkste, weil spannendste Szene der Inszenierung, sie macht den Zuschauer neugierig auf das Folgende.
1. Abschweifung
Es ist kein Geheimnis, daß sich Michael Thalheimer für „Dogma“-Filme interessiert, er selbst hat „Das Fest“ mit Erfolg auf die Bühne übertragen. Ganz sicher hat Lars von Triers Film „Die Idioten“ ihn beeindruckt und inspiriert. Bei von Trier werden jugendliche Aussteiger vorgeführt, die als eine Gruppe von scheinbar Behinderten einen Lebensstil entwickeln, der auf ihre Umgebung sowohl provozierend (eine Zumutung für die Nachbarn!) als auch entspannend wirkt (die armen Irren!). Der wirkliche Gewinn aus diesem manchmal bizarr anmutenden Experiment ist Behutsamkeit im Umgang miteinander, eine neu erfahrene Schüchternheit und Zärtlichkeit – am schönsten eingefangen in der Liebesszene eines jungen Paares. Daß der Versuch am Ende scheitert, spricht nicht unbedingt gegen das Ziel des Dogma-Künstlers Lars von Trier, das er als die Suche nach dem „inneren Idioten“ bezeichnet.
2. Abschweifung
Georg Büchner war 22, als er das Lustspiel „Leonce und Lena“ im Anschluß an die „Lenz“-Novelle und parallel zu den „Woyzeck“-Skizzen schrieb. Das war 1836, ein Jahr nach seiner überstürzten Flucht aus Darmstadt, wo der Verfasser des „Hessischen Landboten“ inzwischen steckbrieflich gesucht wurde. Er setzte die Arbeit am „Leonce“ noch bis in den November hinein fort. Drei Monate später starb er an Typhus. Das Lustspiel steht also zwischen der Studie über ein Genie, das durch Erstarrung und Verödung seines Umkreises und die eigene absolute Isolation in den Wahnsinn getrieben wird, und dem szenischen Grübeln über einen Ärmsten der Armen, der seine Natur nicht in Einklang mit den Konventionen der Gesellschaft zu bringen vermag, darüber den Verstand verliert und zum Mörder wird.
Zwei Fragen sind dem Stück als Vorrede vorangestellt:
Alfieri: „E la fama?“ – Und der Ruhm?
Gozzi: „E la fame?“ – Und der Hunger?
Darin verbirgt sich der Zündstoff des Hessischen Landboten, die Überzeugung (1835 in einem Brief so formuliert), daß das „einzige revolutionäre Element in der Welt“ „das Verhältnis zwischen Armen und Reichen“ ist. „Der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin, und nur ein Moses, der uns die sieben ägyptischen Plagen auf den Hals schickte, könnte ein Messias werden.“ Darum gibt es in „Leonce und Lena“ vornehme Reiche (König Peter und die Hofmarionetten) und Vivat-Schreien übende Arme (die Bauern, die wie eine Parodie auf den heranrückenden Birnamswald in „Macbeth“ mit Tannenzweigen vor dem Schlosse stehen). Und es gibt Figuren, die sich mehr oder weniger der einen oder andern Kategorie annähern, aber dem Gesetz entfliehen möchten, das Oben und Unten zusammenzwingt (Leonce und Lena – die Königskinder, Valerio – der volksnahe Narr – und auch die Gouvernante, die zu viele Liebesromane verschlungen hat). Sie begeben sich auf die Wanderschaft, als durch königlichen und Staatsrats-Beschluß die Vermählung von Prinz Leonce aus dem Reich Popo und Prinzessin Lena aus dem Reich Pipi festgesetzt worden ist. Unterwegs begegnen sich die beiden Fürstenkinder, verlieben sich unerkannt und kehren, von Valerio dirigiert, als Puppen-Automaten nach Popo zurück, wo sie statt des abwesenden Prinzenpaares „in effigie“ getraut werden. Als die Masken fallen und sichtbar wird, daß tatsächlich vollzogen wurde, was ursprünglich vorgesehen war, fühlen sich alle betrogen. Und darum werden seitdem im Reich des Leonce die Stunden nicht mehr nach dem Kalender gezählt, sondern „nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht.“
Versuch einer Annäherung
Leonce ist der Bruder Hamlets und auch jener melancholischen adligen Jünglinge der Romantik, die im Weltschmerz ausbrennen und am Lebensüberfluß und -überdruß erkalten. Doch im Gegensatz zu ihnen ist er ein kunstvoller „Spaßmacher“, der gemeinsam mit Valerio, dem Narren aus Passion, die Wände seines goldenen Käfigs mit geflügelten Zitaten von Brentano, Musset, E.Th.A. Hoffmann, Shakespeare und anderen tapeziert. Zum Zierat dieses Zeitvertreibs gehört auch der Tanz Rosettas, das in Oleander und Rosen gerahmte Bild einer dekadenten Liebe, die eingesargt und im Gedächtnis beigesetzt werden muß, damit durch den Klang von Lenas Stimme die lebendige Liebe erwachen kann. Kurz vor seiner Begegnung mit Lena wirkt Leonce verdüstert, er sieht über dem abendlichen Garten unheimliche weiße Gespenster ihre Fledermausschwingen ausbreiten, während Valerio in den rotgeränderten Wolken „die Aufschrift ‚Wirtshaus zur goldenen Sonne'“ liest. Als sich Lenas Stimme „durch den Raum gießt“, weicht dessen Leere und Kälte, „der Himmel senkt sich glühend dicht“ herab, und Leonce spürt in sich ein „Werden“. Wie entscheidend für Büchner dieser Vorgang ist, belegt das Chamisso-Zitat, das er dem 2. Akt vorangestellt hat: „Wie ist mir eine Stimme doch erklungen / Im tiefsten Innern, / Und hat mit einem Male mir verschlungen / All mein Erinnern.“ Denn Leonce kehrt mit neuem Selbstgefühl an den Hof zurück. Und deshalb kann er der Erkenntnis, daß er der ewig Genarrte in einem höherenorts gelenkten Spiel ist, mit Trotz und Selbstironie begegnen – mit der Etablierung eines Narrenreiches.
Da Michael Thalheimer den dritten Akt bedauerlicherweise auf eine einzige Szene zusammengestrichen hat, die den symbolischen Vollzug der Trauung in Abwesenheit auf eine Kabarettnummer reduziert, können die Figuren gar nicht selbst erfahren, daß ihre Flucht nur ein Abbiegen war auf der vorbestimmten Bahn. Thalheimer läßt seine Twens absolut ins Leere laufen, sie wissen schon alles, bevor irgend etwas geschieht. Sie sind weder erkenntnis- noch risikobereit. Aber sie sind immerhin unterwegs – denn die Scheibe dreht sich unaufhörlich – und manchmal, wenn die Musik verstummt, hört man ihr keuchendes Atmen. Das einigermaßen spannend begonnene Spiel zwischen Leonce und Valerio entgleist mehr und mehr zu einem Idiotenspiel und schlägt bei Leonce um in Ausbrüche der Gewalt (er greift nicht ein, als Rosetta sich an den Mauern blutig – todeswund? – schlägt; er prügelt sich minutenlang auf drehender Scheibe bei dröhnender Musik mit Valerio; schließlich nähert er sich Lena, die sein Begehren weckt, als Vergewaltiger). Die Struktur des Büchner-Stücks zerbricht unter dieser Regie in Splitterszenen, die ohne Beziehung zueinander ablaufen. Man fragt sich zum Beispiel, welche Rolle eigentlich König Peter als Twen zufällt (Christoph Hohmann spielt ihn beeindruckend, aber ohne jeglichen Spielzusammenhang als Trottel mit Machtbefugnis), und ob der Regisseur angesichts seiner Bemühungen um einschneidende Reduktion und Sparsamkeit nicht auch auf die hier völlig unterbelichtete Lena ganz verzichten konnte! Oliver Kraushaar verneigt sich am Ende mit klatschnassem Hemd vor den strapazierten Zuschauern. Er hat zwar mit viel Einsatz, aber dennoch die falsche Rolle gespielt, weil der Regisseur mitten auf dem Weg nicht nur Georg Büchner, sondern wohl auch sich selbst untreu geworden ist.
(Marga Ursula Bré)
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