Karol Szymanowski und Gioacchino Rossini „Stabat mater” (Marcus Erb-Szymanski)

23. März 2001 Gewandhaus Großer Saal

Chor und Orchester des MDR

?Stabat mater? von Karol Szymanowski und Gioacchino Rossini

Dirigent: Marcello Viotti
Choreinstudierung: Howard Arman
Sopran: Elena Mosuc
Alt: Joana Andra
Tenor: Ray Wade
Bariton: Wojtek Drabowicz
Bass: Paolo Battaglia

Der Schmerz im Goldrahmen

Die Vertonungen des mittelalterlichen Stabat mater Gedichts könnte man als eine Art musikalische ?Pieta? bezeichnen. Maria vor dem Kreuz ihres sterbenden Sohnes, ein derartig stark affektbeladenes Bild in Töne zu gießen, in Töne voller Mitleid, Schmerz und Jammer, hat die Komponisten immer wieder und bis heute herausgefordert. Und weil das religiöse, literarische wie musikalische, Bild – und darin eben den Pieta-Darstellungen ähnlich – nicht den Tod als solches thematisiert, sondern die Situation im Angesicht des Todes eines nahen, des nächsten Menschen, ist es in seiner Emotionalität sehr viel konkreter und direkter als beispielsweise eine Totenmesse. Vermutlich hat an keinem anderen musikalischen Ort der Schmerz einen so unmittelbaren Ausdruck gefunden, wie in einigen Stabat mater Vertonungen, allen voran die von Pergolesi, die wohl bis heute der Inbegriff dieser Gattung geblieben ist.

Oft genug war der Verlust eines Verwandten Auslöser zu einer solchen Komposition. Auch Karol Szymanowski trieb der Tod seiner jugendlichen Nichte dazu, sich mit diesem Stoff zu beschäftigen. Und gleich von Beginn an wirken solistische Passagen der Instrumente und vor allem die immer über dem Ganzen schwebende Sopranstimme einsam, wie eine vom Leib gelöste Seele. Diese Art von impressionistischer Haltlosigkeit könnte auch darauf zurückzuführen zu sein, dass fremdartige Harmonien und Klänge das Melodische nicht mehr richtig zu stützen scheinen.

Die Unabwendbarkeit des Schicksals dagegen zeigt sich in den unnachgiebigen und massiven Passagen des Chors und großen Orchesters. Die instrumentalen wie vokalen Einzelstimmen verlieren sich im Chorklang, was an diesem Abend vor allem die weniger kräftige Altstimme zu spüren bekam. Aber dann im vierten Teil (Lass mich sühnen, lass mich klagen…), wo im Mitleid mit Maria eine Erlösung versprechende Verklärung des Schmerzes sich anzudeuten beginnt, emanzipieren sich Sopran und Alt, müssen gegen die Übermacht von Chor und Orchester nicht mehr ankämpfen, besänftigen gar den Chorsatz zu tröstlichen, choralähnlichen Gesten. Doch die eigentliche Erlösung vollzieht sich am Ende, wenn im fünften Teil der Chor durch prononcierte Silbenbetonungen in Sprechgesang zerfällt und im Finale sich die Verzweiflung vollends in Tönen löst. Dann verliert das Wort seinen schmerzvollen Gehalt und wird in musikalischen Ausdruck überhöht.

Störend an der Darstellung wirkte lediglich die Textfassung in italienisiertem Latein. Das Polnische besitzt für die Komposition durchaus eine wesentliche Bedeutung, klanglich wie programmatisch, auch wenn der Komponist eventuell eine Aufführung in lateinischer Sprache zulässt. Doch dann sollte es wenigstens das Unnahbare einer toten Sprache sein und nicht die Transformation in den italienischen Sprachklang, der in einem polnischsprachigen Werk einfach deplatziert wirkt.

Bei Rossini liegen da die Verhältnisse natürlich ganz anders und es lässt sich in der Tat auch kein größerer Gegensatz denken, als der zwischen den beiden an diesem Abend erklungenen Werken.

Man traut seinen Ohren kaum, aber schon in der Einleitung tönen die ersten Schmachtfetzen. Und auch später sind Trauer und Melancholie stets prächtig in ihrer Darstellung, die Belcanto-Einsätze wirkungsvoll kalkuliert wie Opernrollen. Offensichtlich ist es bei diesem Komponisten ganz egal, welcher Text hinter den Melodien steckt, er verschwindet hinter der Musik wie eine schüchterne Zeichnung in einem fetten Goldrahmen.

Doch Vorsicht! Ehe man sich solchen im 19. Jahrhundert in Mode gekommenen Vorwürfen der deutschen Zeitgenossen Rossinis gegen diesen so viel erfolgreicheren Italiener anschließt, sollten auch die Details beachtet werden. Und die sind im Kontrast zu den mitreißenden Elementen nicht weniger wirkungsvoll. Schon zu Beginn führen plötzlich gezupfte Streicherschritte ins tonlose Nichts, reißen Löcher in die Partitur. Und am Ende des ersten Teils tauchen diese Löcher auch beim Chore wieder auf. Die Gesangsszenen sind stets mit einem sehr nachdenklichen Epilog oder auch schon grüblerischen Phrasen in der Begleitung (etwa die Hörner im 3. Teil) versehen.

Nach und nach merkt man dann, dass es einen grundlegenden Unterschied in der Herangehensweise zwischen Rossini und den meisten anderen Stabat mater Komponisten gibt. Rossinis Musik ist, wenn man so will, metastufig. Sie stellt nicht unmittelbar den Inhalt dar, sondern die Form, diesen Inhalt zu erzählen. Rossini erzählt seine Sujets nun einmal opernhaft, dies ist seine Art, etwas mitzuteilen. Und das Opernhafte als solches ist für ihn noch nicht affektgeladen. Es ist noch nie der beste Erzähler gewesen, der bei traurigen Geschichten zu weinen und bei lustigen zu lachen beginnt. Eine gewisse Neutralität steht ihm immer gut. Genau diese Neutralität besitzt Rossinis Opernstil, sie gibt ihm die Freiheit, die Wirkungen des Erzählens mit Hilfe bestimmter rhetorischer Floskeln genau zu berechnen und als Erzähler selbst eine gewisse Unbeteiligtheit an den Tag zu legen. (Natürlich braucht man dazu auch Sänger, die nicht nur eine schöne Stimme haben, sondern auch einen kräftigen Belcanto, um sich gegen den Chor durchsetzen zu können. Das schafften an diesem Abend bloß Elena Mosuc und Ray Wade.)

Ansonsten gehorcht Rossinis Musik noch einer eher ins 18. Jahrhundert gehörenden Ästhetik, gemäß deren Forderungen auch das Grausame letztendlich auf eine ?schöne? Weise erzählt werden sollte. Dies sah man erstens als eine Wahrung der Menschenwürde an, sich wenigstens in der Kunst nicht von natürlichen oder unmenschlichen Katastrophen unterkriegen zu lassen, und zweitens sollte die Kunst in jedem Fall Vergnügen bereiten.

Wie sehr sie dies in der Tat tut, bewies das Publikum an diesem Abend, das mit Bravos auf diese Musik und die Leistung der Ausführenden reagierte. Aber auch hier ist es Rossini, dem Chor und Orchester zu Dank verpflichtet sind. Nach einem mehr solide als besonderes spannungsreich zu nennenden Abend hat der Chor am Ende in mehrmaligen Steigerungen Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen. Das ist wieder einmal genial berechnet und verfehlt bei einem Ensemble mit solchem Potential garantiert seine Wirkung nicht.

(Marcus Erb-Szymanski)

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